Von Werner Kopfmüller, 20.11.2018

Grenzüberschreiter

Manchmal wechseln Musiker die Genres, ohne gleich beim Crossover zu landen. Einige Fundstücke aus Klassik und Rock haben es unserem Autor Werner Kopfmüller angetan.

Vor langer Zeit, als der Klassikhimmel noch nicht voller Stars und Sternchen war, dominierten einige wenige Platzhirsche das Feld. Musikertypen, die ein bestimmtes Repertoire zu ihrem Revier machten, auf dem sie keine Konkurrenten duldeten und in Fragen der Interpretation das letzte Wort behielten.
Eine Zeit lang war das in Sachen Beethoven und Schubert der Pianist Alfred Brendel, Artur Rubinstein setzte bei Chopin die Maßstäbe, und wer sich für Bachs Cello-Suiten interessierte, kam an Yo-Yo Ma nicht vorbei.
Spannend wurde es aber vor allem dann, wenn diese Platzhirsche ihr bekanntes Territorium mal verließen und damit zu regelrechten Grenzüberschreitern wurden.

Einer davon ist Wilhelm Kempff. Man kann ihn zu den Altvorderen zählen, gute deutsche Klavierschule, aber sein lyrischer Beethoven und Schumann berühren mich noch immer. Aus den Untiefen des Plattenschranks krame ich eine Aufnahme der sechsten Nocturne von Gabriel Fauré hervor. Allein schon, dass Kempff diese Repertoire-Rarität spielt, ist ungewöhnlich, und wie er sie spielt, ist zum Dahinschmelzen. Da duftet, federt und glänzt jeder einzelne Ton!
So wie deutsche Pianisten um französische Klaviermusik einen großen Bogen machten, blieb umgekehrt der Liedgesang lange eine Domäne deutschsprachiger Interpreten. Und wehe, ein Nicht-Muttersprachler versündigte sich an „le Lied“. Gérard Souzay bildet da die große Ausnahme. Weil er die Worte in akzentfreiem Deutsch singt - und mit seinen perlengleichen Tönen jeden deutschen Knödeltenor um Längen übertrifft.

Der Wiener Komponist und Chansonier Georg Kreisler nimmt das Klassikpublikum aufs Korn, indem er seine fiesen Reime auf Mozarts „Eine kleine Nachtmusik" schmiedet. Austextieren ist ein beliebtes Stilmittel des Musikkabaretts. Für Kreislers Zeitgenossen war es eine unerhörte Grenzüberschreitung: Seine bitterbösen Chansons wurden mitunter nicht im Radio gespielt.

Dass Kunstgesang und Reibeisenstimme einander nicht ausschließen, zeigt Sting, der aus Schuberts Leiermann einen schnodderigen „Hurdy Gurdy Man“ macht. Auf der Platte „If on a Winter’s Night” finden sich ausschließlich Bearbeitungen klassischen Liedguts. Bei fast allen Songs trifft Sting einen atmosphärisch passenden Ton. So macht Schubert im Pop-Gewand richtig Spaß!

Ein Grenzüberschreiter auf der Bühne wie im wirklichen Leben war Queen-Frontmann Freddie Mercury. (Das Biopic „Bohemian Rhapsody“, das gerade im Kino läuft, lohnt sich nicht nur für Fans!) Die Musik von Queen kennt keine Genregrenzen: Von Rockoper über Stadionhymnen bis hin
zu Disco-Sounds reicht die Palette. Das 1977er-Album „News of the World“ startet zum Beispiel mit den Welthits „We Will Rock You“ und „We are the Champions”, schließt überraschenderweise aber sehr nachdenklich: „My Melancholy Blues“ verbreitet Katerstimmung in der Jazzbar.

Um Grenzen und Konventionen schert sich auch Keith Jarrett nicht. Der kauzige Jazzer geht in seinen Bach-Einspielungen vor allem mit dem Rhythmus extrem frei um. Klingt nicht selten extravagant, schadet der Musik aber nicht. Und überzeugt mich immer noch mehr als das oberlehrerhafte Spiel selbsternannter Bach-Versteher.

© pixabay.com


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