Von Hannah Schmidt, 14.11.2017

Schicksals-Sinfonie

Kaum ein Komponist ist so präsent wie Ludwig van Beethoven, in der Wissenschaft wie auch im Konzert. Die beiden Seiten müssen einander aber nicht ausschließen: Jan Caeyers vereint sie mit seinem Orchester Le Concert Olympique. Im September spielten sie beim Beethoven-Fest in Bonn.

Über 800 Seiten lang, 5 Zentimeter dick, 994 Gramm schwer ist die deutschsprachige Ausgabe von Jan Caeyers‘ Beethoven-Biografie, die 2012, drei Jahre nach der Veröffentlichung des niederländischen Originals, erschienen ist. Ein weiterer Schinken im Bücherregal, den man nicht durchlesen wird, ein Buch in fünf Teilen, das doch eigentlich nur Sachen neu erzählt, die ohnehin schon hundertmal aufgeschrieben wurden. Oder? Eine Assoziation, die sich vielleicht aufdrängt, so lange man das Buch zum ersten Mal in der Hand hält oder in das Inhaltsverzeichnis schaut, aus dem chronologisch das Leben des „einsamen Revolutionärs“ hervorgeht. Tatsächlich aber lohnt sich der Blick in das Buch hinein sehr – nicht zuletzt mit dem Wissen, dass der Autor in ihm nicht nur als Wissenschaftler schreibt, sondern genauso als Beethoven-Interpret.

Durchsichtig, vogelperspektivisch und logisch

Mit seinem eigens für die Beethoven-Interpretation gegründeten Orchester Le Concert Olympique ist Jan Caeyers im September und Oktober (natürlich) beim Beethoven-Fest in Bonn gewesen. Am 20. November ist er das nächste Mal in Deutschland in der Berliner Philharmonie zu Gast. Bei der Interpretation im World-Conference-Center der ehemaligen Hauptstadt zeigte das Orchester den oft als Inkarnation der Leidenschaft begriffenen Meister Beethoven in einem etwas anderen Licht. Was das Ensemble unter Caeyers Leitung da musikalisch vollbrachte, war bemerkenswert: Klang, Technik und Zusammenspiel waren so akkurat und aus einem Guss, wie man es allenfalls von langjährig erfahrenen und intensiv arbeitenden Streichquartetten kennt. Die 2. Sinfonie oder das 3. Klavierkonzert klangen in diesen Minuten so durchsichtig, vogelperspektivisch und logisch wie bei anderen Interpreten ungestüm und emotionsgeladen.



Alles hing miteinander zusammen. Kein Ton, kein Crescendo, kein Akzent war überflüssig, kam aber so organisch und natürlich von dem Klangkörper, dass der Kopf beim Zuhören trotzdem ausgeschaltet blieb. Die Zeit stand und flog gleichzeitig in diesem dreistündigen Bonner Konzert. Klar war diese Interpretation keine leidenschaftlich-saftige und sehr intellektuell, doch wurden den Zuhörern Struktur, Form und Verständnis der Komposition beim Spielen gleich mitserviert. Lupenhafte Momentaufnahme und distanzierter Von-Oben-Blick in einem Atemzug.

Jan Caeyers, weiß man nach einem solchen Konzert, MUSSTE seinen Biografie-Schinken schreiben, um die Musik Ludwig van Beethovens so interpretieren zu können.

Wissenschaft kann man hören. Und Jan Caeyers, weiß man nach einem solchen Konzert, musste seinen Biografie-Schinken schreiben, um die Musik Ludwig van Beethovens so interpretieren zu können. „Eine Interpretation sucht man nicht“, sagt Caeyers, fast zehn Jahre nach Veröffentlichung, in der Lobby des Bonner Hilton-Hotels, beim doppelten Espresso. „Eine Interpretation kommt auf dich zu.“ Mehrere Monate, manchmal ein ganzes Jahr lang, bereite er sich auf das Dirigieren eines Beethoven-Stückes vor. „Ich lebe dann damit“, sagt er. „Im November 2018 dirigiere ich die Missa solemnis. In diesem Dezember beginne ich mit der Vorbereitung.“ Er könnte sie auch jetzt schon aus dem Stand dirigieren. Nur wäre er da für eine wirkliche gute Interpretation noch nicht bereit, glaubt er.

„Irgendwann kommt ein Punkt, an dem ich sage, jetzt bin ich weit genug, um die Musiker davon zu überzeugen, das umzusetzen, was in meinem Kopf ist.“

Jan Caeyers

Jan Caeyers

Er müsse erst das Ganze im Sinn haben, damit alle kleinen Details ihre Logik bekämen. Das sei „wie mit Leuten, die von Geburt an in einer bestimmten Stadt leben. Egal, wo sie sich in dieser Stadt befinden, sie haben immer unbewusst den Stadtplan vor dem inneren Auge, sie wissen immer, wo sie sich befinden. Bei der Musik ist das bei mir genau das Gleiche, ich weiß in jedem Moment, wo ich bin, kenne immer die Beziehung vom Punktuellen zum Ganzen.“ Aus Prinzip dirigiere er deshalb auch immer auswendig. „Ja“, sagt er, „diese Herangehensweise könnte man schon eine typische beethovenianische Technik nennen.“

Denn auch Beethoven hatte immer „das Ganze vor Augen.“ Da klingt im Concert Olympique –das übrigens benannt ist nach der Pariser Konzertreihe „Le concert de la loge olympique" – also ein von Beethoven konzipiertes und geschriebenes Werk in einer Interpretation, die in ihrer Herangehensweise derjenigen der Komposition sehr ähnlich ist. Historische Aufführungspraxis ist es jedoch nicht, was Caeyers und das LCO machen, eher bewegen sie sich im Subgenre der historisch informierten Aufführungspraxis. „Wir spielen mit modernen Instrumenten“, sagt Konzertmeister Friedmann Breuninger kurz vor dem Konzert dazu, „aber beispielsweise konsequent ohne Vibrato. Wir machen die Tongestaltung mit dem Bogen, mit rechts.“

Sporadische Probenphasen

„Alles im LCO ist wie Kammermusik.“

Franz Ortner, Cellist

Im multinationalen LCO herrsche eine besondere Stimmung, sagen sowohl die Musiker als auch Caeyers unabhängig voneinander, es sei ein anderes Musizieren als in den Orchestern, die die Musiker sonst kennen. „Alles im LCO ist wie Kammermusik“, sagt Cellist Franz Ortner. „Jeder sitzt da mit offenen Ohren und reagiert. Wir spielen nicht historisch, aber was uns eint, ist die besondere Klangvorstellung von Jan Caeyers.“ Die sei, sagt Caeyers, dem Orchester ins Blut gegangen: „Die Musiker im LCO sind das LCO geworden, sie sind wie eine Familie.“ Er wolle das nicht romantisieren, schiebt er nach, „aber es gibt eine gewisse Idee, die alle teilen, wie wir mit der Musik umgehen wollen, spezifisch mit der Musik Beethovens.“

Das klingt ziemlich verklärt, und Jan Caeyers merkt es selbst, während er ähnlich schwärmerisch über das Orchester spricht wie seine Musiker. „Ich rede nur für mich selbst“, sagt er mehrfach. „Ich habe nicht die Arroganz zu sagen, das, was ich mache, ist besser als das, was andere machen.“ Dennoch bringt diese Art der Arbeit, die Kombination aus künstlerischer Fähigkeit mit den Erkenntnissen und dem Wissen des aktuellen Forschungsstands, eine besondere Qualität hervor, die man so im sonstigen Orchesterbetrieb nicht findet.
Caeyers ist ein Schicksalsmensch. Dass Beethoven sein Leben werden würde, habe sich ebenso schicksalhaft entwickelt wie sich jede seiner Interpretationen zu entwickeln scheint: „Man kommt in so eine Spirale, wo man etwas gerne macht, und wenn man es gerne macht, macht man es gut, und wenn man es gut macht, hat man einen gewissen Erfolg, und wenn man Erfolg hat, ist man motiviert, es weiter zu machen.“ Er habe beispielsweise nie den Plan gehabt, ein Buch über Beethoven zu schreiben. Obwohl er „jahrelang Bücher über Beethoven gesammelt“ und „eine große Beethoven-Bibliothek“ habe.

Die „Missa solemnis“: Das Stück der Superlative

Im Berliner Konzert steht im November kein Drei-Stunden-Programm auf dem Plan. Dafür unter anderem Beethovens Tripelkonzert C-Dur op. 56. Im nächsten November, also im Jahr 2018, gibt es dann die eineinhalbstündige „Missa solemnis“, Beethovens eigentlich größtes und monumentalstes Werk der letzten Schaffensperiode, wie Caeyers sagt – über das Beethoven selbst nach einiger Zeit der Komposition nur noch in Superlativen sprach. Der Anspruch des LCO an die Interpretation dieses Stückes ist dabei nicht größer oder geringer als der an alle anderen Konzerte. „Der Idealzustand ist“, sagt Caeyers, „dass der Hörer das Stück wahrnimmt wie ein Gemälde, in dem er auf einen Blick erkennt, dass jedes Detail eine Beziehung zum Ganzen hat.“ Bei der „Missa solemnis“ dauert das 90 Minuten. Wenn es im Publikum keine Ablenkung gebe, glaubt Caeyers, sei das aber möglich. „Letzten Endes ist ein Instrument nur ein Instrument, ein Mittel, um etwas zu gestalten, und das Orchester ist ein Vermittler.“ Die Kommunikation mit dem Publikum will er maximieren, die Leute „sollen vergessen, dass sie in einem Konzertsaal sitzen“. Die Musik solle wirken wie ein Schlaglicht, 90 Minuten in einer Sekunde, detailreich aber vor allem zusammenhängend. Die Zeit, sagt Caeyers, solle „aufhören zu existieren“.

Das LCO im Konzert

In der Berliner Philharmonie spielt das Concert Olympique am 20. November unter der Leitung von Jan Caeyers:

Joseph Haydns Sinfonie Nr. 104 in D-Dur,
Ludwig van Beethovens Tripelkonzert in C-Dur, op. 56 und
Ludwig van Beethovens Egmont-Ouvertüre.

Im Tripelkonzert spielen Till Fellner (Piano), Antje Weithaas (Violine) und Maximilian Hornung (Violoncello).

Weitere Konzerte in Deutschland spielt das Orchester im April des kommenden Jahres, Motto der Tour ist „Prometheus“. Die Konzerte sind
am 22. April 2018 in der Essener Philharmonie,
am 24. April 2018 in der Berliner Philharmonie und
am 25. und 26. April 2018 im Ludwigshafener Feierabendhaus.

© Le Concert Olympique
© Hannah Schmidt


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