Von Christopher Warmuth, 30.05.2017

Klassikbootcamp

Das „Curtis Institute of Music“ gilt als das Harvard für Musikerinnen und Musiker. Die Institution wurde 1924 gegründet, die Liste der prominenten Absolventen ist lang: Leonard Bernstein, Samuel Barber, Juan Diego Flórez, Hilary Hahn und Lang Lang. Wie geht es in Zukunft dort weiter?

Wer sich in Zukunft als Künstler auf dem knallharten Markt behaupten will, muss mehr können als nur musizieren. Aber was bedeutet das konkret?

Fast einhundert Jahre nach Gründung hat sich das Institut angepasst! Heute setzt das Konservatorium den Schwerpunkt auf die interdisziplinäre Ausbildung der Musikerinnen und Musiker. Wer in den Kader aufgenommen wird, muss bereits perfekt spielen und wird anschließend nicht nur exzellenten Unterricht erhalten, Musiktheorie, Musikgeschichte oder Kontrapunkt studieren, sondern soll vor allem seinen Horizont so weit wie möglich öffnen. Aktuell touren daher die Musiker vom Curtis als Orchester durch Europa. Wie die ganz Großen. Roberto Díaz, Direktor des Instituts, ist ebenfalls ein Alleskönner. Als Künstler feiert er große Erfolge, die realitätsnahe Ausbildung seiner Schützlinge steht für ihn an erster Stelle.



niusic: Was muss sich am Musikbetrieb ändern, damit sich das Leben für Orchestermusiker verbessert?

Roberto Díaz: In Europa weiß ich das nicht. In den USA reicht es nicht mehr aus, dass man nur gut spielt. Das können viele. Man muss auch mit Sponsoren reden können, das gehört zum Job. Bei uns gibt es ja so etwas wie eine „öffentliche Finanzierung“ nicht. Das sind alles private Gelder. Und natürlich ist es den Geldgebern wichtig, dass sie den, den sie unterstützen, auch regelmäßig persönlich treffen.

niusic: Was wird sich auf musikalischer Ebene ändern?

Díaz: Bei mir ist das so, dass ich relativ schnell begriffen habe, dass ich nicht nur Solokonzerte spielen will. Ich will auch Kammermusik machen, lehren, aufnehmen, reden und meine Kommunikationskanäle selbst pflegen.

niusic: Das klingt nach der eiermilchlegenden Wollmilchsau?

Díaz: (lacht) Dieses Wort kenne ich nicht. Aber ja – natürlich besteht da die Gefahr, dass das „Eigentliche“, das Musikmachen, leidet. Aber ich glaube nicht, dass wir beim Curtis Institute da gefährdet sind. Die Absolventenliste bestätigt das ja. Aber warum sollte man sich die Möglichkeiten nehmen, mehrere Dinge zu tun, die alle mit der Leidenschaft zu tun haben? Das macht keinen Sinn. Ich will so offen wie möglich sein und immer Neues ausprobieren. Und man muss seine Interessen als Stärken nutzen, wenn jemand keine Lust auf Kammermusik hat, dann ist das so. Aber wenn man vielseitig interessiert ist und die Möglichkeit hat, das auszuleben: ja, dann los! Wir wollen unseren Studentinnen und Studenten einfach die Realität aufzeigen, sie darauf vorbereiten.

niusic: Will man eigentlich noch Musiker werden? Ich kenne keine Musiker, die das ihren Kindern raten würden.

Díaz: Dann bin ich der Erste. (lacht) Ich liebe meinen Beruf, ich kann sehr viel verändern. Und wenn es keine Angebote gibt, wo ich mich ausleben kann, dann erfinde ich sie einfach selbst. In welchem Beruf hat man diese Möglichkeiten? Ich glaube, es gibt keinen berühmten Künstler, der nicht eine Persönlichkeit hat. Also die ganz Großen sind nicht nur gute Musiker, sie können viel mehr ...

niusic: Lang Lang ist der erfolgreichste Pianist der Welt. Die Szene nimmt ihn nicht ernst, er ist ein Verkaufsschlager. Züchtet ihr solche Künstler hoch?

Díaz: (lacht) Ich werde Lang Lang nicht verteidigen oder dafür oder dagegen argumentieren. Das steht mir gar nicht zu. Nur eines: Es gibt keinen Künstler, der mehr junge Menschen zum Erlernen eines Instrumentes gebracht hat. Er hat einen immensen Einfluss. Das ist sicher. Und das ist super.

niusic: Wie muss ich mir das Studium bei euch vorstellen?

Díaz: Der Unterricht ist bei uns nicht das Allerwichtigste. Er ist essenziell, aber projektbezogenes Arbeiten ist uns sehr wichtig. Wir arbeiten wie ein Musikfestival auch mit einem Motto. Also zum Beispiel: Darmstadt.

niusic: Das hört sich befremdlich an, dass man in Philadelphia nach Darmstadt verrückt ist ...

Díaz: So ist das. Es war ein sehr reichhaltiges Thema. Wir haben das vier Semester gemacht. Oder wir hatten die zweite Wiener Schule zum Thema gemacht. Da sind wir nach Wien gefahren, die Studentinnen und Studenten haben Sigmund Freud gelesen. Alleine sich in seine Theorie der Psychoanalyse einzulesen, kann einem für die Musik der zweiten Wiener Schule helfen. Es geht uns um das große Ganze.

niusic: Ich glaube, in einem durchschnittlichen Orchester geht der Anteil von Leuten, die zum Beispiel vor einer Opernproduktion das Libretto lesen, gegen Null ...

Díaz: Bei uns ist auch das anders. Und es geht nicht nur um die Textbücher der Opern. Wir fassen das viel weiter. Das gehört dazu, der gesellschaftliche Rahmen von Musik ist extrem wichtig, um zu musizieren. Literatur, Bildende Kunst, Politik kann man da nicht ausklammern.

niusic: Das hört sich nach einem Klassikbootcamp an. Hohes Tempo, maximaler Input und Überforderung ...

Díaz: Unser Niveau ist nur so gut wie die Interessen unserer Musiker. Meistens ist es so, dass wir die Kurse verlängern, weil wir darum gebeten werden. Die Grundstimmung ist bei uns phänomenal, vielleicht auch, weil wir viel Verantwortung abgeben, indem wir auf die Bedürfnisse eingehen. Es ist tatsächlich eine Familie, da hilft jeder jedem, und das ist ganz fantastisch anzuschauen. Unser Konzept geht auf.

niusic: Aber was ist die Vision von Curtis?

Díaz: Die Musiker sollen sehr realitätsnah auf die Zukunft vorbereitet werden und „out of the box“ denken.

niusic: Aber die Realität werden sie ja noch früh genug kennen lernen. Wenn wir uns jetzt die Realbedingungen anschauen und dann über die Zukunft reden, sind das ja zwei verschiedene Dinge. Die Zukunft ist ja immer anders als das Reale, als die Gegenwart ...

Díaz: Ich glaube, allein der Punkt, dass unsere Studenten sich aktiv beteiligen und das selbstverständlich dazugehört, wird dazu führen, dass sich etwas verändert. Natürlich ist mir die Veränderung sehr wichtig. Aber ich glaube, der Weg ist nicht, dass ich ihnen erzähle, wie grausam die Klassikwelt ist, selbst wenn ich es denken würde.

niusic: Aber die rosa Brille ist ja auch nicht sehr hilfreich. Der Schutz des Instituts wird ja irgendwann nicht mehr da sein ...

Díaz: Wir erziehen unsere Musiker zu mündigen Künstlern. Sie werden Dinge verändern. Das muss ich ihnen nicht beibringen. Das lernen sie bei uns von alleine.

Die Europatournee der 80 Musikerinnen und Musiker des Curtis Institute

20.05.17 Helsinki Music Centre
22.05.17 Die Glocke, Bremen
23.05.17 Konzerthaus Berlin
24.05.17 Dresdner Musikfestspiele, Kulturpalast
26.05.17 Cadogan Hall, London
29.05.17 Mozarteum, Salzburg
30.05.17 Wiener Konzerthaus
31.05.17 Wrocław National Music Forum
02.06.17 Krzysztof Penderecki European Centre for Music, Lusławice


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