Von Anna Chernomordik, 26.05.2017

Kühe. Käse. Klassik.

Gstaad hat 7000 Einwohner. Und genausoviele Kühe. Doch im Sommer wird die Schweizer Urlaubsgemeinde von Klassikhörern überrannt. Sieben Wochen lang stören beim Gstaad Menuhin Festival Orchesterklänge das meditative Läuten der Kuhglocken.

Klischees haben den Vorteil, dass sie in uns schnell Bilder erzeugen können. „Come up, slow down“ ist der Werbespruch des Dorfes Gstaad im Berner Oberland. „Nature. Music. You.“ lautet der neue Slogan eines der größten Klassikfestivals der Schweiz, das dort stattfindet. Übersetzt bedeutet das: Fahrrad fahren, Käse essen, Musik hören – Klassik im Wohlfühlpaket. Aber es heißt hier auch: Konzerte in einem Zelt inmitten der Schweizer Alpen. Der Geiger, Dirigent und Humanist Yehudi Menuhin hat Gstaad in den 50er Jahren zu seinem regelmäßigen Rückzugsort erwählt. 60 Jahre später macht das Gstaad Menuhin Festival die Region noch immer zur Pilgerstätte für große Namen der Musikszene, ganze sieben Wochen lang.



„Es ist kein Festival, das in einem urbanen Umfeld stattfindet, sondern ein Festival, bei dem sich Ferienpublikum und Einheimische durchmischen.“

Christoph Müller

Niedrige Schwellen

Passend zum Motto „Pomp in Music“ empfängt Gstaad Anne-Sophie Mutter (24.8.), Evgeny Kissin (26.8.) und Christian Zacharias (10.8.). Das Gstaad Festival Orchestra präsentiert sich und seinen neuen Dirigenten Jaap von Zweden u.a. mit der pompösen sinfonischen Dichtung „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss (12.8.). Dazu gibt es Georg Friedrich Händels Oratorium „Messias“ mit dem Tölzer Knabenchor (15.7.) und eine konzertante Aufführung von Giuseppe Verdis Oper „Aida“ (1.9.). Außerdem jede Menge Liszt-Bearbeitungen großer Werke, gespielt von Klaviervirtuosen in unterschiedlichen Karrierestadien. Viele Namen und Werke auf dem Programm zielen auf eine möglichst breite Zuhörerschaft ab. Der Intendant Christoph Müller sieht bei den Zuhörern des Festivals entsprechend auch viele unterschiedliche Interessen:

„Einen bedeutenden Teil des Publikums machen Einheimische und Leute aus der Region aus, die vielleicht aus einem Umfeld kommen, in dem klassische Musik jetzt nicht so eine Rolle spielt. Andererseits gibt es die hypersensiblen Musikkenner und -liebhaber, die eine Woche Urlaub nehmen und in dieser Zeit in jedes Konzert gehen. Und dann gibt es auch Musiksnobs, die nur zu den größten Namen kommen. Ich muss wirklich allen gerecht werden, und das macht es bei der Themenwahl relativ schwierig, aber auch spannend.“

Festival im Festival

Wenn man sich die Großveranstaltungen ansieht, lassen sich mehrere rote Fäden im Gesamtprogramm erkennen, es gibt auch ein Kammermusikfestival im Festival. An drei Abenden spielt Isabelle Faust in Begleitung von Alexander Melnikov alle Beethoven-Violinsonaten. Andere wagen einen Blick auf die innere Pracht der musikalischen Form in der Reihe „Brahms ou la richesse intérieure“. Dazu gehört auch das Eröffnungskonzert mit der norwegischen Geigerin und diesjährigen Artist-in-Residence Vilde Frang.

Gstaad Menuhin Festival 2017

Vom 13. Juli bis zum 2. September füllt das Gstaad Menuhin Festival die idyllische Landschaft mit Musik. In diesem Jahr lädt es unter dem Motto „Pomp in Music“ zu über 60 Konzerten ein, die in neun Konzertzyklen zusammengefasst werden. 1957 von Yehudi Menuhin gegründet, verzeichnet das Festival heute 20.000 Besucher jährlich. Die meisten Konzerte finden in den Kirchen der Umgebung statt. Für große Orchesterprogramme greift man auf das Festivalzelt zurück. Weitere Infos und das gesamte Festivalprogramm unter www.gstaadmenuhinfestival.ch.

Musizieren unter Freunden

Das Festival in Gstaad dreht sich um Interpreten, vor allem um solche, die dem Gründer oder dem Festival selbst verbunden sind. Schließlich begann alles damit, dass Menuhin seine geschätzten und international renommierten Kollegen in die Schweiz eingeladen hatte – um „gemeinsam in entspannter Atmosphäre [zu] musizieren“. Dieses Prinzip verfolgt auch Christoph Müller. Seit 15 Jahren hat er die Intendanz des Festivals inne und versucht, „den Geist Menuhins“ nach seinem Tod weiterzutragen.

„Als ich angefangen habe, hatte ich das Riesenglück, dass Alfred Brendel noch drei Jahre lang dabei war. Dann war es für mich einfacher, an ganz große Musiker heranzukommen. Ich war ja noch ein totales Grünhorn. Ich konnte dank ihm eine Art Familie ausbauen. Darunter ist zum Beispiel András Schiff, der jedes Jahr kommt, aber auch andere, die damals vor 12, 13, 14 Jahren totale Newcomer waren, wie eben Patricia Kopatchinskaja oder Khatia Buniatishvili, Sol Gabetta, Fazıl Say. Die gehören sozusagen zu einem Menuhin-Kosmos, mit ihnen habe ich konsequent eine Verbindung zum Publikum aufgebaut. Man kann sagen, es kommen immer dieselben, aber man versucht ja mit den Künstlern auch Inhalte zu entwickeln und an einer gewissen Linie zu arbeiten.“

Schwerpunkt Talentförderung

In diesem Jahr benennt Christoph Müller auch junge „Menuhin Heritage Artists“, die in den nächsten fünf Jahren dem Festival verbunden bleiben sollen. Daneben bietet das Festival Akademien für Streicher, Sänger, Pianisten, für jugendliche aufstrebende Orchestermusiker und auch für erwachsene Laien an. Besonderheit und Aushängeschild ist allen voran die Conducting Academy, bei der angehende Dirigenten über drei Wochen mit dem Festival-Orchester arbeiten können.



„Die Musik spricht für sich allein. Vorausgesetzt, wir geben ihr eine Chance.“

Yehudi Menuhin

Urlaub von der Welt

Musiker, die möglichst ungestört ihre Arbeit verrichten, und ein Publikum, das dabei Ferien macht. Das Festival lässt die politischen Geschehnisse und das Treiben der Welt unkommentiert. In diesem Sinne färbt auch das Gstaader „Come up, slow down“ eskapistisch ab. Yehudi Menuhin, der sich Zeit seines Lebens für Frieden und Völkerverständigung eingesetzt hat, benutzte dazu in erster Linie seine Musik – gilt sie also auch hier als universelle Antwort? Zeitgenössische Kompositionen sind bei dem Festival beispielsweise nicht vertreten, „weil es nicht die Atmosphäre ist, um neue Stücke und die Komponisten von heute vorzustellen, um ihnen auch eine gerechte Plattform zur Verfügung zu stellen,“ begründet Christoph Müller. Begünstigt wird das Ganze vielleicht durch eine Finanzierungsstruktur, die praktisch ohne öffentliche Förderung auskommt. Das Gstaad Menuhin Festival stellt seinem Publikum keine großen Fragen, schreibt sich keine politischen Botschaften auf die Fahnen, tritt aber auch nicht in Fettnäpfchen. Es verkauft Idylle. Und gute Musik.

© Esther Hasse
© Gstaad Menuhin Festival & Academy


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