Von Hannah Schmidt, 16.12.2016

Jauchzet, frohlocket!

In der Adventszeit bieten Chöre in mehreren Städten „Singalongs“ an: Konzerte, bei denen die Besucher mitsingen können. Auf dem Programm stehen dann meist Händels „Messias“ oder Bachs „Weihnachtsoratorium“ – wie beim „Singalong“ des Dortmunder Bachchores. Hannah Schmidt hat für niusic den Selbsttest gemacht.

Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ gehört zu den wenigen großen Stücken der Musikgeschichte, die ich so gut wie auswendig kenne: Schon in meiner Kindheit liefen spätestens ab dem ersten Advent die sechs Kantaten im Hintergrund, die meine Mutter mitsang und mein Vater immer mal wieder versuchte, auf dem Klavier zu spielen. Jahr für Jahr muss ich so unbewusst die Musik aufgesogen haben. Es dann vor sieben oder acht Jahren das erste (und bisher einzige) Mal richtig im Chor mitzusingen war eines meiner schönsten Konzerterlebnisse. Im Dortmunder „Singalong“ gab es jetzt eine neue Chance für mich.

Der Dortmunder Bachchor singt das „Weihnachtsoratorium“ jedes Jahr, die Konzerte sind traditionell ausverkauft. Für manche Dortmunder gehört dieses Konzert in der Innenstadtkirche St. Reinoldi zur Adventszeit dazu wie Kranz und Stollen. Dieses Jahr gab es zum dritten Mal einen Tag vor dem Konzert ein „Singalong“, bei dem die Besucher nach Stimmgruppen aufgeteilt mitsingen konnten, vorherige Proben waren nicht verpflichtend. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich meine alten in schwarzes Bastelpapier eingeschlagenen Noten wieder aus dem Regal wühlte, mich durch die Stücke blätterte, meine mit Bleistift zwischen die Systeme gekritzelten Kommentare durchlas: „Artikulation!“, „Gucken!“, „nicht atmen!“, „gis!“ – und so weiter.

Die Kirche füllt sich nur langsam. Ich bin aus lauter Vorfreude viel zu früh und sitze schon auf einem Platz in einer der „Alt“ 262 -Bänke. Gemurmel hallt von den Wänden wider und erfüllt den Raum, es klingt voller als es ist. Der Oboist übt noch Teile aus „Bereite dich Zion“ und der Echo-Arie „Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen“. Von seinen im Stimmengewirr verhallenden Linien begleitet, treffen sich um mich herum scheinbar alte Bekannte, grüßen sich, erzählen sich Neuigkeiten, die Atmosphäre ist vertraut. Ich sehe ebenfalls bekannte Gesichter: aus Chören, die ich mal begleitet oder in denen ich projektweise gesungen habe, aus Gemeinden und von Gottesdiensten, in denen ich Orgel spiele oder gespielt habe. Dortmund ist klein.

  1. Die vier Stimmgruppen bezeichnen heutzutage in erster Linie die Stimmlage, in der ein Mensch singt: Sopran ist die hohe Frauen- und häufig Melodiestimme, die Frauen im Alt sind nicht älter, sondern singen die tiefere Frauenstimme. Gleichermaßen ist der Tenor die hohe und der Bass die tiefe Männerstimme.

Fünf Minuten einsingen, und schon geht´s los

Langsam wird es ruhiger, erwartende Stille, in der Sakristei tut sich was. Dann kommt das Orchester auf die Bühne, wird mit Applaus begrüßt. Die Frau neben mir lacht leise und schaut mich an: „Ich habe gestern Abend noch geübt“, sagt sie. Das letzte Mal habe sie das Oratorium „vor vielen Jahren in meinem damaligen Chor“ gesungen und hatte dann keine Zeit mehr, zu den Proben zu gehen. „Das Singen fehlt mir so“, sagt sie. „Letztes Mal war ich auch beim Singalong, und das war richtig toll, so lebendig und voller Freude.“ Als der Chor die Bühne betritt, klatscht sie noch etwas lauter. Ich drehe mich um und sehe, dass die Kirche nicht so gut besucht ist. Auf den Zuhörer-Bänken hinter den mitsingenden Besuchern sitzen nur vereinzelt Leute.

Es gibt Regeln: Die Teilnehmer dürfen nicht immer singen.

Chorleiter Klaus Müller trägt ein Ansteck-Mikrofon. Er erklärt die „Regeln“: Die Arien 102 werden von den jeweiligen Stimmgruppen stehend mitgesungen, die Choräle von allen in ihren jeweiligen Stimmen, und zwar sitzend, der Evangelist 263 singt alleine, und die Mittelteile der Da-Capo 38 -Arien singt ebenfalls nur der Solist. Singen sollte man nur dann, wenn man sich der entsprechenden Stelle sicher sei. Gewinnendes Lächeln. „Und jetzt singen wir uns ein.“ Kurze Aufwärmübung, Atemübung, Artikulationsübung, eine Übung für die Tiefe, eine Übung für die Höhe. Keine fünf Minuten insgesamt, ich fühle mich nicht so wirklich warm – vergesse das aber irgendwie sofort, als die ersten Takte von „Jauchzet, frohlocket“ erklingen.

  1. Wenn Komponisten zu faul waren, die Wiederholung zu notieren, dann schrieben sie einfach „da capo“, „von Beginn“. Und weil die Melodien in den Opern und Oratorien der Barockzeit einfach viel zu schön waren, um nur einmal zu erklingen, hat man das „Da Capo“-Prinzip gleich zu einer ganzen Gattung gemacht: In der „Da-Capo-Arie“ hat der Künstler zwei Chancen auf Perfektion. Doppelt hält eben besser. (AV)

  2. Wie sprechen, nur schöner: In der Oper unterhalten sich die Menschen singend. Während sie im Rezitativ versuchen, möglichst viel Handlung zu erzählen, dürfen Papageno, Carmen und Co. in der Arie ihren Gefühlen Luft machen. Herausgelöst aus der ursprünglichen Geschichte wurden diese Schmuckstücke manchmal berühmter als die Oper selbst. (AJ)

  3. Meist von einem Solo-Tenor gesungener Part, der zwischen den Chorälen und Arien in Oratorien und Kantaten in kurzen Zwischenstücken die weitere Handlung - den Bibeltext - erzählt und das jeweilige neue Setting beschreibt.

Müller dreht sich beim Einsatz für die Singalong-Teilnehmer um, dirigiert mit dem Rücken zu Chor und Orchester, wenn wir singen. Die Frauen, die im Alt um mich herum stehen, singen erstaunlich sicher – anfangs deutlich sicherer als ich. Vielleicht hätte ich vorher doch noch einmal reinschauen sollen, wie die Frau neben mir, denke ich. Tatsächlich brauche ich ein paar Takte, um wieder reinzukommen in meine Stimme. Vieles habe ich wohl doch vergessen, merke ich, und nehme mich ein bisschen zurück. Das geht ganz gut, denn die Stimmen um mich herum sind in der ersten Nummer kräftig und präsent, als stünden ihre Besitzerinnen selbst auf der Bühne. An eine starke Stimme, die von einem Platz aus der Bank hinter mir kommt, hänge ich mich dran.
Es ist ein schönes Gefühl zu merken, wie die Erinnerung wiederkommt, die Erinnerung an melodische Phrasen, Text und Textverteilung und auch an manche tückischen Intervalle 245 und Sprünge, die in dieser ungezwungenen Gemeinschaft aus motivierten und sing-begeisterten Teilnehmern sprießen kann. Es ist schön, dass nicht alles perfekt sein muss, dass ich ausprobieren kann, dass die Frau neben mir und ich bei unseren Patzern lachen können und weitersingen. Was im Chor ein No-Go wäre, nämlich rauszufliegen, rumzumurmeln und zu brummeln, bis man es wieder schafft einzusetzen, ist hier okay. Selbst wenn wir alle gleichzeitig rausfliegen sollten – vorne steht ja der Chor, und die können das.

  1. Drei Schritte hoch, vier Schritte runter: von einem Ausgangs-Grundton gesehen, misst das Intervall den Abstand zwischen einzelnen Tönen. 5 ist eine Quint, 4 eine Quart, Terz und Sext klingen für unsere heutigen Ohren lieblich, die Sept lässt uns erschauern, und die genaue Mitte einer Oktave, der Tritonus, malt klanglich den Teufel an die Wand. So sind die Intervalle das Lebenselixier jeder Musik, ohne sie gäbe es nur Monotonie. (AV)

„Bereite dich, Zion“ aus voller Brust.

Die Arie „Bereite dich, Zion“ singen alle Sopranistinnen und Altistinnen aus voller Brust, und die Solistin auf der Bühne bedeutet uns, kräftiger zu singen, motiviert uns weiter. Manchmal scheint es mir, als würde sie mich direkt anschauen und anlächeln. Ein schönes Gefühl, wo Musiker auf der Bühne doch häufig über die Köpfe der Besucher hinweg sehen. Und jetzt singen wir auch noch zusammen diese schöne Arie. Tatsächlich habe ich zum ersten Mal das Gefühl, von den Künstlern als individuelle Besucherin wahrgenommen zu werden. Nicht in erster Linie die Gemeinschaft mit den anderen Singalong-Teilnehmern erfüllt mich mit Stolz und Freude, merke ich in diesem Moment, sondern die Gemeinschaft mit den Musikern.

Wir sitzen zwar unten, in den Kirchenbänken, und Chor, Orchester und Solisten sind auf der Bühne, auf einem Podest ein Stück über uns, aber wir machen alle zusammen Musik – und zwar ohne jeden Zwang. Die „Regeln“, die Klaus Müller am Anfang erklärt hatte, bricht er selbst wieder auf, das erste Mal bei dem Choral „Herrscher des Himmels“: „Der Beginn hier, finde ich, ist so solistisch, dass Sie dafür aufstehen können.“ Später werden wir auch bei „Ich steh an deiner Krippen hier“ stehen und versehentlich den Mittelteil der Tenor-Arie „Ich will nur dir zu Ehren leben“ mitschmettern. Es ist in Ordnung. Der Solist schmunzelt. Und ja: Meine Nachbarin und ich haben auch leise eine Bass- und die eben genannte Tenor-Arie mitgesungen.

Abschied von den gängigen Konzert-Konventionen

Dieses „Singalong“, merke ich, ist eine wunderbare Mischung aus klassischem Konzerterlebnis und dem wohl in jedem Konzert-Besucher lebenden Wunsch, selbst mitzusingen. Die Rezitative 109 und Arien-Mittelteile sind klassische Momente, in denen auch wir den Atem anhalten und zuhören, vielleicht mitlesen, aber die Musik auf uns wirken lassen, obwohl wir wenige Momente vorher noch selbst mittendrin waren. Es geht nicht um Perfektion – sicherlich klangen manche Töne, die wir gesungen haben, ganz schrecklich –, sondern darum, sich einmal von der Konvention, im Konzert leise zu sein und nur zuzuhören, zu lösen.
Irgendwie ist das Konzert viel schneller vorbei, als ich erwartet hatte. Die Teile I, III und IV haben wir gesungen, und als Zugabe „Ich steh an deiner Krippen hier“ (als Müller das verkündete, ging ein schmachtendes Seufzen durch die Reihen). Der Applaus ist lang, begeistert. „Ich mache diese Singalongs sehr gerne“, sagt mir Klaus Müller nach dem Konzert. „Ich finde den Sound einfach klasse, vor allem in den Arien, wenn dann alle Bässe ‚Er ist auf Erden kommen arm‘ singen – das klingt einfach toll.“ Alle zwei Jahre veranstaltet der Bachchor diese Konzerte immer abwechselnd mit Kinder-Konzerten, jetzt seit sechs Jahren. Der Anreiz?

  1. Diese vornehme Schwester des Rap ist eine Art melodisch und rhythmisch notierter Sprechgesang, begleitet entweder von einer kleinen Instrumentengruppe aus Cembalo und Bassinstrumenten (Secco-Rezitativ) oder dem Orchester (Accompagnato-Rezitativ). Anders als in der Arie, wo die Figuren ausgiebig in ihren Gefühlen schwelgen, treibt es die Handlung voran. (AJ)

„Mich hat es fasziniert. Ich dachte: Lass uns das auch mal machen, und zwar in schön.“

Klaus Müller

„Wir haben das selbst mal mitgemacht in Frankfurt“, erzählt Müller. „Da war das aber nicht so wie hier sondern das war so eine runde Kirche.“ Die Teilnehmer standen im Halbkreis, waren ein einziger großer Chor. „Das Orchester hat grottenschlecht gespielt“, sagt Müller und lacht, „und der Kantor war stinklangweilig. Mich hat es aber dennoch fasziniert. Ich dachte: Lass uns das auch mal machen, und zwar in schön.“ Anfangs, sagt er, habe er Furcht gehabt, dass der Klang in der Reinoldikirche zerfasere und „man nicht richtig zusammen kommt“. Das sei aber „überhaupt kein Problem“: „Es macht einen riesen Spaß, die motivierten Leute hier sitzen zu haben, die das geübt haben, wirklich singen wollen und das auch gut machen wollen.“

Als wir uns unterhalten, kommt die Sopranistin aus der Sakristei, umarmt Müller, strahlt, bedankt sich überschwänglich. „Ich bin ganz begeistert“, sagt sie. Ich nehme es ihr sofort ab, sie wirkt glücklich. Wie es für sie war? „Easy! Toll! Das war so schön, mit den Leuten zusammen die Arien zu singen!“ Eine Art Probe für das Konzert? „Ach, besser!“, sagt sie.
Ich bin ein bisschen selig, als ich die Kirche wieder verlasse. Draußen ist großer Weihnachtsmarkt-Trubel, normalerweise würde ich ungeduldig und wütend dabei werden, mein Fahrrad nur Zentimeterweise bis zur Straße schieben zu können. Jetzt ist das anders. In meinem Kopf klingt „Ich steh an deiner Krippen hier“, und mir ist warm. Auch wenn es vielleicht nicht immer schön geklungen hat – das „Singalong“ hat irgendwie gut getan.

© Hannah Schmidt


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