#akkordarbeit

Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

Von Silja Vinzens, 19.08.2020

Sprengsätze

Das Diogenes-Quartett widmet sich auf seiner neuen CD dem Komponisten Max Reger. Violinist Stefan Kirpal und Bratschistin Alba González i Becerra erzählen im Interview, warum Reger mit dem Streichsextett F-Dur weit über die Grenzen der Romantik gegangen ist und was sie an seiner Musik besonders reizt.

„Es ist ein typischer Reger, der vor Modulationsfähigkeit, Energie und Facettenromantik nur so strotzt.“

Stefan Kirpal

niusic: Warum haben Sie sich bei Ihrer neuen Aufnahme gerade für das Streichsextett von Max Reger entschieden und nicht für seine Quartette?

Alba González i Becerra: Wir haben das Sextett schon 2016 für ein besonderes Projekt erarbeitet: für den Film „Maximum Reger“ von Will Fraser. Damals wurden wir speziell für dieses Werk angefragt und das hat den Stein ins Rollen gebracht. Bei der Aufnahme waren wir uns einig, dass das Stück eine gute Wahl ist, weil wir es schon so intensiv erarbeitet hatten und wir finden, dass es viel zu wenig gespielt wird. Die Leute spielen oft die Brahms-Sextette, warum können sie nicht auch das von Reger aufführen?

Stefan Kirpal: Das Sextett war tatsächlich der Ausgangspunkt für unsere CD. Ein typischer Reger, der vor Modulationsfähigkeit, Energie und Facettenromantik nur so strotzt – das macht Spaß! Dem gegenüber wollten wir einen Kontrast setzen, das zweite Werk auf der Aufnahme ist das Klarinettenquintett A-Dur, das ist viel lieblicher und abgeklärter. Uns ist wichtig, diese beiden Seiten Regers zu zeigen.

#akkordarbeit

Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

niusic: Sie haben es gerade angedeutet: Das Sextett ist hochromantisch und verfügt über viele Zwiegespräche der Instrumente. Es eröffnet große Klangräume, die ausgefüllt werden wollen. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Kirpal: Zuerst liest man die Partitur und nähert sich so langsam an. Wir hatten mit dem Quartett vorher noch nichts von Reger gespielt, wir mussten erst lernen, was Regers Tonsprache ausmacht. Da hat jede:r Komponist:in ja eine eigene Art, wie er oder sie etwa die Amplitude in der Dynamik abbildet. Ob man, wie Schubert, alles sehr minimalistisch ausschreibt oder, ob man fast alles im Fortissimo schreibt und somit jedes Piano ein Heiligtum ist. Bei Reger war schnell klar, dass es im Sextett eine Art Solotrio und noch ein zweites Trio gibt, sprich: drei exponierte, sehr hohe Instrumente und drei, die die Fülle in der Hand halten. Das ist spannend! 

González i Becerra: Und in der Umsetzung viel Arbeit! Man muss bei Reger sehr klar wissen, was wann kommt, weil beinahe jede Phrase mit einer neuen Vortragsanweisung überschrieben ist. Jede:r muss genau aufpassen, welche Stimme gerade führt. 

niusic: Für manche Werke finden Komponist:innen sogar konkrete Bilder. Reger hat beispielsweise den dritten Satz des Sextetts, das Largo con gran espressivo, als „Gespräch mit dem lieben Gott“ beschrieben. Welcher Art von Gespräch lauschen wir da?

González i Becerra: Man spürt hier sofort, dass es wie ein Choral geschrieben ist, das ist wirklich sehr religiös.

Kirpal: Ja, es ist auf jeden Fall etwas sehr Inniges, Heiliges und ganz entrückt. Der erste Satz und das Scherzo sind kraftvoll und intensiv, während sich dieser Choralsatz ganz langsam ausdehnt. Das ist ein ganz seliges Gespräch, finde ich. 

González i Becerra: Max Reger soll den Satz gesagt haben: „Wir haben nicht genug Zeit“. Ich habe das Gefühl, dass er sich gerade bei diesem Teil des Sextetts mit dem Gedanken darüber auseinandergesetzt hat – ein Gespräch über Leben und Tod, über das er musikalisch sinniert. 



„Reger sprengt mit dem Sextett die Grenzen des vollendeten, romantischen Stils seiner Zeit. Er beendet die Romantik.“

Stefan Kirpal

niusic: Haben Sie eigentlich einen Lieblingssatz?
 
González i Becerra: Mir gefällt im zweiten Satz der Mittelteil, das Meno Vivace, am besten. Der Charakter der Musik ist an dieser Stelle mal sehr fein, warm und charmant im Gegensatz zum sonst eher Voluminösen. Und dann gefällt es mir natürlich auch sehr, dass ich an dieser Stelle mit meiner Bratsche gut zu tun habe. 
 
Kirpal: Für mich ist es der erste Satz, weil er so sinfonisch angelegt ist. Das Orchestrale und diese großen Amplituden haben mich von Anfang an gereizt. Auch herauszuarbeiten, dass wir am Ende die Stimmen so definieren, dass die Zuhörer:innen mit dieser Klangfülle zurande kommen. Das hat mir beim Lesen der Partitur schon Spaß gemacht, und beim Spielen selbst umso mehr. Da ist Reger ganz anders als zum Beispiel Brahms. Reger sprengt mit dem Sextett die Grenzen des vollendeten, romantischen Stils seiner Zeit. Er beendet die Romantik.

„Ich liebe das sehr, wenn von außen ab und zu neue Impulse – oder sogar neue, kleine Übungen beim Proben – kommen. Das ist sehr gesund.“

Alba González i Becerra

niusic: Wie finden Sie denn miteinander zu einer Interpretation eines solchen Sextetts? Wird da auch mal wild um etwas gestritten?
 
González i Becerra: Also einer unserer beiden Gäste hat sich extra bedankt, dass es so nett war! Es war eine sehr gute Atmosphäre, jede:r durfte etwas vorschlagen und es wurde dann theoretisch auch übernommen. (lacht)
 
Kirpal: Wobei es tatsächlich ganz witzig ist, dass das im Quartett gar nicht so ist, denn wir haben uns natürlich zu viert vorher schon gut vorbereitet. Das, was Alba sagt, trifft lustigerweise immer dann zu, wenn Leute von außen dazukommen. Da werden alle vier von uns sehr bereitwillig, Dinge auszuprobieren. Im Quartett ist natürlich schon viel Diskutieren und mitunter auch ein Kämpfen im positiven Sinne an der Tagesordnung. Wenn ein Gast dazukommt, fehlt aber auch einfach die Zeit, zu sehr um etwas zu Ringen. Im festen Ensemble geht das schon mal zäher zu.

niusic: Jetzt sind wir auf Ihre beiden Gäste zu sprechen gekommen: Roland Glassl an der Viola und Wen-Sinn Yang am Violoncello. Wie ist das denn, wenn man sich als eingespieltes Quartett mit zwei Neuzugängen auseinandersetzen muss?
 
González i Becerra: Sehr erfrischend. Denn, wie Stefan sagt, ist es so, dass man sonst schon gewohnt ist, was die Quartettkollegen so an Ideen bringen. Ich liebe das sehr, wenn von außen ab und zu ganz neue Impulse – oder sogar neue, kleine Übungen beim Proben – kommen. Das ist sehr gesund.

niusic: Sie haben vorhin gesagt, dass dieses Sextett viel zu wenig gespielt wird. Werden Sie es in Zukunft auch häufiger in Live-Konzerten spielen oder ist es zu schwer, die sechs Terminkalender dafür abzustimmen?
 
González i Becerra: Ich glaube, das ist eine Frage der Veranstalter:innen. Wenn ein:e Veranstalter:in das wirklich möchte, ist alles möglich. Manchmal sind ökonomische Gründe allerdings wichtiger als das Programm.

© diogenes-quartett.de, wildundleise.de


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