Von Malte Hemmerich, 30.04.2019

Die Besten im Schlechtsein

In den 1970ern strömten Menschenmassen in den Konzertsaal, um ein Orchester, die Portsmouth Sinfonia, richtig schlecht spielen zu hören. Heute tritt das Orchester nicht mehr auf. Hätte es noch eine Chance in unserer durchperfektionierten Welt?

Selten tat einem eine Pianistin so leid. Mit den mächtigen Eröffnungsakkorden des Klavierkonzerts von Peter Tschaikowski besteigt sie den Klavierolymp, meistert das Monster unter den Klavierkonzerten und kann diesen Moment doch nicht heroisch genießen. Denn da ist unglücklicherweise noch das Orchester: Wie Wellen von Brackwasser schlagen absaufende Streicher unschön gegen die Klavierkaskaden, als wollten sie sie in die Musikhölle hinabziehen. Und die Blasinstrumente spielen etwas, was sich wie eine schreckliche Verunglimpfung des schönen Tschaikowski-Themas anhört.
Wenn dann die Geigen beginnen, die tapfere Pianistin mit einem Pizzicato zu begleiten, klingt das eher nach einem Angriff und reißenden Saiten. Hier stimmt etwas gar nicht.



Und doch hat alles seine Ordnung und ist zudem hochoffiziell. Wir befinden uns in der Royal Albert Hall, das Publikum ist da, auch wenn es die Riten des Konzerts nicht allzu ernst zu nehmen scheint.
Und die Pianistin Sally Binding, frisch vom Musikcollege, hat das Konzert extra einen Halbton tiefer transponiert, damit die Musiker sich nicht durch die vielen Vorzeichen b-Molls kämpfen müssen. Also alles ganz normal oder?
Natürlich nicht. Man kann es ahnen: Binding ist an diesem Abend die einzige Person auf der Bühne, die etwas von ihrem Instrument versteht.

Die Portsmouth Sinfonia wurde 1970 an einem englischen Kunstcollege gegründet, ein Uniorchester, in dem jeder mitspielen darf. Ob Musiker oder nicht. Die einzigen Voraussetzungen: Es musste ein Instrument gewählt werden, von dem man keine Ahnung hat, und regelmäßige an den Proben teilgenommen werden. Denn das Orchester trat tatsächlich auf. Mitte der 70er wurde die Gruppe Kult, sie spielte die Klassiker, die die Musiker wahrscheinlich ähnlich gut kannten wie ihr Publikum, aber immerhin sie kannten sie und hatten eine ungefähre Vorstellung vom Klang. Wer wissen will, wie sich die oft gehörten Evergreens der Klassik im ernsthaften Spielversuch – denn extra falsch spielen war im Orchester verpönt –anhören, dem öffnet sich auf YouTube eine Schatzgrube.

Professionell schlecht sein geht eben auf Dauer nicht gut, denn man wird zwangsläufig besser darin.

Waren es die Wünsche nach Ruhm und Geld, die Musiker, wie unter anderem Michael Nyman (Euphonium) und Brian Eno (Klarinette), zusammenbrachten? Wohl eher nicht, es war der Spaß und der Wunsch nach etwas Punk im Klassikbetrieb. Skandale um Aufführungsrechte von Noten, da die Verwertungsgesellschaften in der Interpretation des Orchesters teilweise neue Arrangements hörten, oder verwirrtes Publikum inklusive. Doch ist das noch Orchester oder schon Komikertruppe? Vielleicht waren die Portsmouth-Musiker, die ihre Dirigenten nur nach künstlerischem Aussehen wählten, ja ein Vorreiter der Trash-Kultur in der Klassik. Heute gibt es das Orchester nicht mehr, professionell schlecht sein geht eben auf Dauer nicht gut, denn man wird zwangsläufig besser darin.

Wo würden wir Portsmouth Sinfonia heute finden? Beim Supertalent oder Eurovision Song Contest? Sicher nicht. In der perfektionistischen Medienwelt von Instagram und Selbstoptimierung ist entweder Platz für nach Erfolg strebende Fortschrittmacher oder Freaks. Nicht aber für liebenswert-obversive Revoluzzer, die etliche Probenstunden investieren mussten, um ein Konzert überhaupt halbwegs gemeinsam zu beenden. Der Szeneapplaus des damaligen Publikums spricht für sich: Immer, wenn ein Part einigermaßen gemeistert wurde, brandete er auf, live dabei, wenn jemand begann, sein Instrument zu verstehen. Das war nach Aussagen damaliger Besucher ein tolles, künstlerisch wertvolles Ereignis. Den Komik-Aspekt nicht zu vergessen, der aber nicht auf Kosten der Musiker lief, sondern auf Kosten der Musik.

Wenn jemand etwas nicht kann, ist er, besonders im harten Musikbusiness, ein Versager und landet in einem der zahlreichen Fail-Videos auf bekannten Videoplattformen. Und auch der Klassikbetrieb dürfte in den letzten dreißig Jahren nicht wirklich entspannter und selbstironischer geworden sein, könnte das aber gut gebrauchen. Insofern: höchste Zeit für die nächsten professionellen Stümper!

© pixabay


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