Seit September ist Justin Doyle RIAS-Chef. 42, ein Chamäleon als Chor-, Opern- und Orchesterdirigent, ein Ausprobierer, Alleskönner, Geheimtipp (zumindest in Deutschland). Der Brite ist völlig anders als seine Vorgänger Hans-Christoph Rademann oder Rinaldo Alessandrini, hat keine Homepage, keinen Wikipedia-Eintrag, keinen Ruf, keine Allüren. Was er aber hat, sind Ideen – nicht unbedingt Visionen, dafür ist er zu bescheiden – und große Lust, Sachen auszuprobieren, die ihm in den Sinn kommen.
Dem mit Preisen geschmückten 70 Jahre alten RIAS-Kammerchor werden dagegen vor allem Tradition und Anspruch nachgesagt, und die Fähigkeit, Maßstäbe zu setzen. Was dieses Ensemble als ungewöhnliche Formate ausprobiert – wie die „Forumkonzerte“ in Hörsälen, Umspannwerken, Wasserwerken –, bleibt nicht lange überraschende Novität: Der Chor ist so etabliert, dass selbst solche Konzepte in Rekordschnelle breitstraßigen Kultstatus erreichen. Folgerichtig hat das Berliner Ensemble Bock auf seinen neuen Chef. Und es zieht mit.
So war am Sonntag auf der Elbphilharmonie-Bühne allein schon die Aufstellung ein Statement: Bei Johann Sebastian Bachs Motette „Komm, Jesu, Komm“ BVW 229 – dem ersten Werk, das beim „Resonanzen“-Konzert erklang – standen die Instrumentalisten des Hamburger Ensemble Resonanz verstreut zwischen den Sängern des RIAS-Kammerchores mit im Halbkreis. Violine neben Sopranistin, Violine, Sopranistin, Sopranistin, Viola, Altistin, Altistin, Violine, Altistin, Cello, Tenor – und so weiter. Justin Doyle dirigierte über leere Musikerstühle und -pulte hinweg mit drahtig-sportlicher Geste eine so nicht nur klangliche, sondern vor allem optische Einheit. Diese beiden von ihrer Ausrichtung her eigentlich völlig unterschiedlichen Ensembles wurden so zu einem einzigen großen Chor, in dem Stimme gleich Instrument und Instrument gleich Stimme ist, in dem alle Standesgrenzen aufgehoben sind, wo auf Kosten der traditionellen Aufführungspraxis eine völlig neue Wahrnehmung, ein glänzend neuer Klang erzeugt wird, von Doyle fein in die Luft gezeichnet mit einem unsichtbaren Pinsel zwischen seinen Fingerspitzen. Eine musikalische Erleuchtung.
Bei der Aftershowfeier im Resonanzraum dann, zwei Stunden später bei Wirsingsuppe und ganz anderer Musik, die aus den Boxen kommt, macht Doyle einen ziemlich zufriedenen Eindruck. Es scharen sich Menschen um ihn, er ist wie ein kleines magnetisches Zentrum in der Menge – „ich hol mir noch schnell ein Bier“ kann da eine sich verquatschende halbe Stunde dauern. Der „Chef“, wie ihn eine Sängerin beim Verabschieden liebevoll-ironisch nennt, ist beliebt, bei Chorsängern, Gästen, Resonanz-Musikern. Man merkt schnell: Er ist hier genau richtig. Weil er weiß, was er an diesem Chor und an der Zusammenarbeit der Ensembles hat.
Justin Doyle
„Was ich an den Musikern des Ensemble Resonanz besonders bewundere“, sagt er, dann doch vom Tresen zurückgekehrt, „ist, wie gut sie hören. Sie atmen richtig mit. Sie atmen mit ihren Bögen!“ Es sei ihm bei der gemischten Aufstellung im Bach um diese ursprüngliche Verbindung gegangen, und eben nicht darum zu betonen, dass das eine Ensemble Gast und das andere Gastgeber gewesen sei. Es war ein Versuch, sagt er, eine spontane Idee. Klingt salopp, nach „Nicht der Rede wert“, wie eine Bauchentscheidung. Dennoch ist diese Entscheidung bezeichnend für den Weg, den der neue Leiter des RIAS da auf seine galante Weise mit dem Chor einschlägt – und es ergänzt sich kongenial mit der Ausrichtung des Konzertpartners an diesem Abend. Es geht nämlich nicht nur raus in die dem Chor längst geöffnete Welt, es geht vor allem darum, den Chor selbst für die Welt auf eine neue Weise zu öffnen. Manche Musiker fanden die gemischte Aufstellung am Anfang tatsächlich keine gute Idee. Öffnung kostet auch Überwindung.
Und zwar auf beiden Seiten: „Vor meiner ersten Bach-Probe mit dem Chor war ich richtig aufgeregt“, sagt Doyle. „Sie konnten das Stück auswendig und hatten es schon hunderttausend Mal gesungen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihnen überhaupt etwas Neues sagen werden kann, oder ob sie überhaupt einen Dirigenten benötigen.“ Doch dann probierte er etwas aus. „Ich habe die Stimmen getauscht, die Sopran-Stimmen mit den Tenor-Stimmen, und die Alt-Stimmen mit den Bass-Stimmen.“ Das war neu. Anders. Danach klang das Stück durchsichtiger. „Weil die Sängerinnen und Sänger die anderen Stimmen nicht nur bewusster wahrnehmen konnten, sondern weil sie sie nun richtig gut kannten.“
Es sind, so wirkt es, kleine Kniffe, die am Ende ungeheuer viel verändern – obwohl Doyle selbst, fragt man ihn, was er denn an dem Chor und seinem Klang „verändern“ wolle, immer betont: „Grundsätzlich gar nichts.“ Er wolle nur die „Möglichkeit haben, den Klang für jeden Komponisten und jedes Stück gemeinsam mit dem Chor zu entwickeln.“ Aber Tomás Luis de Victorias „Tenebrae Responsories“ zu mischen mit Hans Werner Henzes „Fantasia für Streicher“ – das ist eigentlich eine typische Programmgestaltungs-Geste des veränderungsinnovativen Ensemble Resonanz: das „Alte“ etwas „Neuem“ gegenüberstellen und so ungekannte interpretatorische Ansätze und Hör-Kontexte eröffnen. Wie „Improvisationen über einen Gedanken aus de Victorias Komposition“ sollten die jeweils attacca folgenden Henze-Sätze klingen, sagt Doyle. Über den Hinweis, das habe ziemlich gut funktioniert, lacht er, als habe er das nicht unbedingt erwartet: „Da bin ich ja froh!“
All diese Programm-, Dramaturgie-, Aufstellungsveränderungen, „das waren alles meine verrückten Ideen“, sagt Doyle. Diese Konstellation, die da im großen Elbphilharmonie-Saal ihre Premiere feierte, fühlte sich schon vor dem menschenwarmen Partygewusel an, als passe da ein Puzzleteil perfekt ins andere. So singen an diesem Abend um Mitternacht ein paar übrig gebliebene RIAS-Sänger das strahlend-perfekteste Ad-Hoc-Geburtstagsständchen für ein Resonanz-Mitglied, das die Welt je gehört hat. Doyle lacht: „Merkt ihr, niemand singt die Melodie, alle improvisieren Zwischenstimmen“, und er hebt seine Bierflasche in Richtung des Pulks an der Bar.
RIAS, Resonanz, Doyle – das könnte der Beginn einer langen Freundschaft sein.
Zweites Konzert am Freitag
Der RIAS-Kammerchor und das Ensemble Resonanz führen das Konzertprogramm ein zweites Mal auf.
Beginn des Konzerts am Freitag (2.3.) ist um 20 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin.
Tickets kosten zwischen 25 und 45 Euro.
Weitere Informationen gibt es auf der Homepage des RIAS-Kammerchores und des Ensemble Resonanz.