Von Anna Vogt, 21.05.2016

„Neue Welt“ im Wüstenreich

Wer bei „Laienorchester" an miefige Probenräume und eingeschränkt genießbare Konzerte denkt, der kennt das Junge Ensemble Berlin noch nicht. In diesem Orchester lernt man fürs Leben und brennt für die Sache. So wie bei der jüngsten Konzertreise nach Jordanien – die auch zum politischen Statement wurde.

Jedes Orchestermitglied auf seinem eigenen schwankenden Kamel in der jordanischen Wüste, Hornspielen im Toten Meer, gemeinsam durchfeierte Nächte mit zwei Beduinen – und fünf sehr unterschiedliche Konzerte mit so unterhaltsamen wie aufschlussreichen Culture Clashs: Die Geschichten sprudelten nur so, als sich niusic-Autorin Anna Vogt mit dem Dirigenten des Jungen Ensembles Berlin (JEB), Michael Riedel, Vorstandsmitglied und Cello-Stimmführerin Karoline Wulfert und der Geigerin und Reise-Initiatorin Anke Jaspers zum Interview traf.

Das „War Requiem“ mit Kindern: Gelebte Musikpädagogik

„Die Eroica zum 45. Mal zu spielen“, darum geht es Michael Riedel mit dem JEB nicht. Stattdessen wolle man jede Komposition „mit einem Zweck verbinden, etwas damit anstoßen oder bewirken. Zu jedem Stück gibt es eine Geschichte, die erzählt werden kann“. Deswegen spielte das JEB zum Beispiel vor einigen Jahren das Verdi-Requiem als Benefizkonzert für die Rekonstruktion der Orgel im ehemaligen KZ Theresienstadt, wo diese Komposition während des 2. Weltkriegs aufgeführt worden war. Bei Brittens „War Requiem“ erarbeitete man 2015 gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen die historischen und kulturellen Hintergründe dieses Werkes und präsentierte sie in einer Videocollage zu Beginn des Konzerts. Gelebte Musikpädagogik für alle Beteiligten: „Wir lernen auch selbst so viel bei solchen Projekten“, sagt Karoline dazu, „wir schaffen einfach Bewusstheit für Themen“.

Während der Planungszeit entwickelte sich die Flüchtlingskrise, wurden Paris und Brüssel von Terroranschlägen erschüttert: Aus der Konzertreise wurde ein politisches Statement.

Diese Einstellung prägte auch die Reise nach Jordanien im März und April 2016. Dabei begann alles im Grunde mit einem Zufall: Vor etwa drei Jahren war man auf der Suche nach einem Ziel für die nächste große Orchesterreise. Die Wahl fiel auf Jordanien, dank Ankes guter Kontakte in das arabische Land. Doch während der Planungszeit von etwa 1 ½ Jahren entwickelte sich die Flüchtlingskrise, Europa wurde von den terroristischen Anschlägen in Paris und Brüssel erschüttert. Und so ist „über diesen ganzen Zeitraum der Planung unsere Konzertreise immer politischer geworden,“ erzählt Anke. „Jordanien ist das Land mit den meisten syrischen Flüchtlingen, und wir wollten gern mit den dortigen Flüchtlingskindern musikpädagogisch arbeiten. Außerdem ist in dem Land der Tourismus total zusammengebrochen, und dass wir nun mit einer Gruppe von 60 Musikern in dieses Land gefahren sind: Damit wollten wir auch einfach ein Zeichen setzen.“ Vor allem deswegen, weil Jordanien im Moment – im Gegensatz zum in den Medien vermittelten Eindruck – ein sehr sicheres Land ist und den Tourismus dringend zum Überleben braucht. Das Konzept überzeugte auch andere: Die Schirmherrschaft für das Projekt teilten sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der jordanische Botschafter in Berlin, auch das Goethe-Institut in Jordanien und die dortige Botschaft waren schnell mit an Bord.

Jordanischer Drive

Mit zwei Bussen ging es neun Tage lang kreuz und quer durchs Land: Einen Tag leiteten die Orchestermusiker Workshops an und gaben ein Konzert in einer Gemeinde, die an das größte Flüchtlingslager Jordaniens Umm Al-Jimal angrenzt. In vier Gruppen wurden mit etwa 30 Kindern Tanzchoreografien und Percussionbegleitung zu den einzelnen Sätzen von Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ eingeübt und anschließend bei einem Open-Air-Konzert gemeinsam aufgeführt. Alle waren mit Begeisterung dabei, sogar ein Camp-Wächter machte in voller Montur und mit riesigem Spaß bei einem der Workshops mit. In fünf Konzerten, drei davon gemeinsam mit dem semiprofessionellen Jordanian National Orchestra, präsentierte das JEB anschließend sein Konzertprogramm im ganzen Land: Tschaikowskis Violinkonzert, Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und Mohammed U. Sidiqs „Dialog für Flöte und Nay“, in dem eine arabische Längsflöte auf die westliche Querflöte trifft. Bei den gemeinsamen Konzerten schwelgte man pultweise durchmischt zu den romantischen Klängen, die zwei Dirigenten wechselten sich mit der Leitung ab. Die Kommunikation auf Englisch funktionierte zwischen den Musikern wunderbar, und Karoline meint über die kulturellen Unterschiede der Orchester: „Die Jordanier hatten ein bisschen mehr Drive und haben uns einfach mitgezogen“. Alles hat fast erschreckend gut geklappt, wundert sich Anke noch heute: „Keiner ist verloren gegangen, krank geworden oder hat sich verletzt, nicht mal ein Instrument ist kaputt gegangen“.

Standing Ovations, Gewehrschüsse und ein irritiertes Blumenmädchen

Vor allem das Konzert in der Stadt Zarqa wird den Musikern wohl noch lange in Erinnerung blieben. Bei einem Vortrag der Konrad-Adenauer-Stiftung hatte der Referent die Stadt wenige Tage zuvor als „Radikalenhochburg“ bezeichnet. Kein Wunder, dass die Nervosität beim Orchester spürbar war. Und dass während des Konzerts draußen Gewehrschüsse abgefeuert wurden, als traditioneller Bestandteil einer Hochzeit, ließ den Puls der ahnungslosen Musiker noch zusätzlich in die Höhe schnellen. Aber, wie Anke sich erinnert: „Es war das lustigste und interessanteste und bewegendste Konzert überhaupt. Die haben uns dort aufgenommen, als wären wir Popstars. Dort hat zum ersten Mal überhaupt so ein großes klassisches Konzert stattgefunden. Und als wir am Ende zum Applaus aufstanden, sind alle auch immer ganz begeistert aufgesprungen und haben gepfiffen und geschrien. Am Ende wurde Michael sogar ein Pokal überreicht. Diese ungezügelte Freude in einem Konzert, das erfährst du ja bei uns ja meist gar nicht mehr“.

Nachdenken über westliche Konzertrituale: Mitten in der jordanischen Wüste erntet Dvořáks Neunte ungewohnt spontane, natürliche Reaktionen.

Es sind solche Erlebnisse, die einen zugleich auch damit konfrontieren, wie künstlich und starr die Konventionen des westlichen Konzertbetriebs sind, an die wir alle uns längst gewöhnt haben. Denn „mitten in der Wüste in Jordanien ein Konzert zu spielen und zu merken, wie die natürlichen Reaktionen auf so ein Stück wie Dvořáks Neunte sind, die die meisten dort zum ersten Mal in ihrem Leben hören, und wie konditioniert wir dagegen sind, ist schon spannend", meint Michael dazu. Für reichlich Irritation auf allen Seiten und viele Lacher im Nachhinein sorgte bei diesem Konzert vor allem ein Blumenmädchen, das während des Tschaikowski-Konzerts immer wieder auf die Bühne kam, um nur ja nicht den richtigen Moment für die Blumenübergabe zu verpassen. So sorgte diese Reise nicht nur für jede Menge überraschender Erlebnisse, räumte mit Vorurteilen auf und brachte die Berliner Musiker zum Nachdenken, sie hat auch das Orchester noch mehr zusammengeschweißt und Lust gemacht auf neue Abenteuer. Zurück geblieben sind in Jordanien die Percussion-Instrumente der musikpädagogischen Workshops, die das JEB durch Crowdfunding finanziert und der Gemeinde geschenkt hat: als klingende Erinnerung an die arabisch-deutschen Begegnungen an der syrischen Grenze.

Das Junge Ensemble Berlin

Das Junge Ensemble Berlin (JEB) ist eines der wenigen komplett frei organisierten Laienorchester in Berlin und mit seinen gut 50 Jahren eines der ältesten. Wer hier mitspielen will, muss sein Instrument nicht studiert haben, sollte es aber auch nicht vorrangig als Staubfänger benutzen und muss vor allem Orchestererfahrung mitbringen. Vorspielen muss im JEB niemand, aber man wird drei Proben lang „ausprobiert“. Da zeigt sich schnell, ob es passt, musikalisch wie menschlich. Die Regeln bei den wöchentlichen Proben sind streng, werden aber klar kommuniziert: Zu spät kommen etwa geht gar nicht, die Orchesternoten zu üben ist natürlich Pflicht. „Wir haben eine klare Linie: Verlässlichkeit“, so der Chefdirigent Michael Riedel. Darauf muss man sich einlassen wollen. Doch die Belohnung sind bestens vorbereitete Konzerte in der Philharmonie oder im Konzerthaus Berlin, oft mit jungen, aber namhaften Solisten. Und wer hier einmal seine musikalische Heimat gefunden hat, der bleibt oft viele Jahre lang, Altersgrenze gibt es hier keine. Zudem ist Orchesterspielen auch einfach eine Schule fürs Leben: „Was Musik an Nebenwirkungen hast, ist einfach Wahnsinn“, sagt Michael dazu, „was es an sozialen Kompetenzen fördert, an Vernetzung schafft. Denn Orchesterspiel ist ja vor allem ein Teamplay und zwar in allen Belangen: Man muss lernen, den anderen zuzuhören, sich einzufügen.“ Nicht immer einfach bei hundert zum Teil grundverschiedenen Charakteren!
Aber das Luxuriöse am Laienorchester-Dasein: „Wir haben echt Zeit. Wir proben meist drei Monate für ein Programm von zwei Stunden und können uns wirklich intensiv mit den Stücken beschäftigen. Oft gibt es auch Informations- oder Analyseabende zum Programm. Die Auseinandersetzung mit der Musik geht bei uns weit über das reine Spiel hinaus,“ erklärt Michael. Und hier wird nicht über die Köpfe der Musiker hinweg entschieden. Stattdessen lebt man im JEB flache Hierarchien. Sogar bei der Wahl des Programms haben alle Mitspracherecht: Basisdemokratie, die natürlich nicht immer konfliktfrei und reibungslos abläuft. Alle zwei bis drei Jahre wird in einer allgemeinen Grundsatzdebatte, dem „Quo Vadis“ (dt: „Wohin soll es gehen?“), im ganzen Kollektiv über die Zukunft des Orchesters, neue Projektideen und Kritikpunkte geredet. Bei einem Bierchen, versteht sich. Denn bei aller professionellen Organisation und den hohen künstlerischen Idealen ist das JEB schließlich auch einfach ein Freizeit-Orchester, in dem man Spaß haben will. Gefeiert wird (nicht nur) nach den Konzerten bis in die Morgenstunden, die meisten nehmen sich vorsorglich schon mal den nächsten Arbeitstag frei.

Das nächste Konzert des Jungen Ensembles Berlin findet am 5. Juni um 20 Uhr in der Berliner Philharmonie statt. Auf dem Programm stehen Sergei Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 mit Mario Häring als Solist und Brahms´ Klavierquartett Nr. 1 in der Orchestrierung von Arnold Schönberg. Die Leitung hat Michael Riedel. Tickets gibt es online über www.reservix.de und an vielen VVK-Stellen.
Weitere Informationen unter www.junges-ensemble-berlin.de.

© Anna Niestroj, Benjamin Janković, Stephan Röhl


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