„Wagnerianer“, sagt Dieter Kleemann, „das sind für mich Leute, für die Wagner das Größte und Einzige ist. Fast eine Sucht.“ In den noblen Frühstückssaal des Golfhotels fällt die Sonne. Dieter Kleemann lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lächelt. „Ich bin kein Wagnerianer“, sagt er. Er kommt seit vier Jahren zu den Bayreuther Festspielen, wohnt in Tröstau im Golfhotel, 40 Minuten Busfahrt vom Hügel entfernt, um Tristan und Isolde, Der fliegende Holländer, Parsifal oder den Ring des Nibelungen zu sehen. „Meine Frau und ich sehen die Kunst. Es klingt einfach nirgendwo wie in diesem Opernhaus. Es ist, als würde die Musik von oben auf einen herabregnen“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, die Künstler sind in Bayreuth freier als anderswo“, sagt seine Frau. „Ich mag das, wenn Oper politisch ist und sich was traut.“
Dieter und Yoshie Kleemann, 75 und 76 Jahre alt, sind seit sieben Jahren Rentner, sie haben Zeit und sie haben Geld. Er als ehemaliger Arzt und sie als ehemalige Lehrerin für Englisch sind Kosmopoliten, leben ein internationales Leben mit vielen Reisen und Bekanntschaften in ungefähr jedem Land der Welt. Untereinander sprechen sie Deutsch, Japanisch und Esperanto, ihre Kinder sind in ihren besten Jahren und beherrschen neun Sprachen. Das Ehepaar macht einen sympathischen Eindruck, unbesorgt und fröhlich. „Nächstes Jahr möchten wir die Meistersinger sehen“, sagt Dieter Kleemann. Und bevor sie den Saal verlassen, um die Rückreise anzutreten, gibt er Burkhard Gellesch, dem Veranstalter, der am Tisch nebenan sitzt, darüber schon einmal Bescheid.
„Hoher Bildungsstand“ und „finanziell gut ausgestattet“
„Wir haben viele Wiederholer“, sagt Gellesch. „Das sind Leute, die sechs, sieben, acht, neun Jahre hintereinander kommen.“ Das Publikum sei recht homogen: „Die Jüngsten, die bei uns buchen, sind 40, 45 Jahre alt, das Alter ist nach oben hin offen.“ Seine Kunden hätten einen „hohen Bildungsstand“, kämen aus gehobenen Berufen und seien „finanziell gut ausgestattet“. Weil viele von ihnen sich zwar für Musik und auch für die Musik Wagners interessierten, aber oft nicht genau wüssten, was sie in Bayreuth wirklich erwartet, gibt es in seinem Paket Einführungsvorträge „für musikinteressierte Laien“, um „Vorurteile abzubauen.“
So passiert es auch, dass Menschen diese teuren Reisen buchen, die nachher für sich feststellen – wie eine Dame am Abend nach dem Parsifal –, „dass das nichts für mich ist.“ Es sind die, für die Bayreuth vielleicht so etwas ist wie ein weiterer Haken auf einer To-See-Liste. Nicht alle kommen der Musik und der Kunst wegen. Einige wollen offenbar vor allem eine angenehme kulturelle Rundum-Reise machen, von der sich nachher schön erzählen lässt. „Die Leute können sich hier im Hotel entspannen“, sagt Gellesch. „Manche verlängern ihren Aufenthalt auch. Sie wollen das Festspielhaus und alles Drumherum erleben“, aber dabei vor allem auch einen angenehmen Urlaub haben.
Weil die Karten für die Festspiele nicht direkt vom Haus kommen – Kooperations-Versuche des Veranstalters seien „immer wieder gescheitert“, sagt Gellesch –, zahlen die Reisenden das drei- bis dreieinhalbfache für eine Opernkarte. „Die wissen, dass wir die Karten vom Sekundärmarkt bekommen, und sie akzeptieren das auch.“ Eine Komplettreise kostet sie dann insgesamt zwischen 1450 und 6645 Euro.
Der Sekundärmarkt
Das Konzept, so scheint es auf den ersten Blick, ist vor allem Unterhaltung für gut betuchte Menschen mit viel Zeit – egal, ob diese nun wirklich an den Opern Richard Wagners interessiert sind oder nicht. Bayreuth gehört für manche zu einem sich kultiviert gebenden Leben einfach dazu, genau wie ein Konzert von Jonas Kaufmann oder Anne-Sophie Mutter in der Elbphilharmonie und das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Alles ganz oberste Preiskategorie, „Highlights“ eben – ungeachtet der Tatsache, dass musikalische Highlights nicht unbedingt viel Geld kosten müssen. Aber geht es den Reisenden wirklich nur um das Prestige des Festivals und die Bekanntheit der Namen auf dem Programmzettel?
Elisabeth Bierbach, Reisende
Beim Gespräch mit den Teilnehmern der letzten Ring-Vorführung entsteht ein anderer Eindruck. Sie wirken bemüht und interessiert an dem, was auf der Bayreuther Bühne passiert. Sie machen sich beim Einführungsvortrag Notizen, recherchieren vorher und anschließend auf eigene Faust Informationen zu Inszenierung, Besetzung und Rezeption. Elisabeth Bierbach, 66, aus Dortmund, ist das zweite Mal in Bayreuth, sie interessiert sich schon seit ihrer Jugend für Richard Wagner. „Das Drumherum am Hügel ist geblieben“, sagt sie. „Das Publikum hat sich nicht verändert. Aber die Inszenierung hat mir damals, vor 30 Jahren, besser gefallen als gestern das Rheingold.“ Was sie auf der Bühne sehen würde, sei ihr „im Grunde genommen eigentlich gar nicht wichtig“. Für sie geht es vor allem um das Orchester und gute Stimmen – „und die Akustik ist hier einfach anders als in Dortmund im Opernhaus“. Für sie steht hier die Musik im Zentrum – „mystisch und geheimnisvoll“.
Elisabeth Bierbachs Freundin, die 63-jährige Margit Petzold aus Dortmund, hat ihren kleinen Schreibblock immer dabei. Sie geht auch in ihrer Heimatstadt und in der Umgebung in die Oper, ist Mitglied der Dortmunder Theater- und Konzertfreunde, unterstützt finanziell das kulturelle Leben vor Ort. Bayreuth ist für sie zwar eine besondere Unternehmung, stellt sich im Gespräch heraus, aber kein jahrzehntelang gehegter Seelenwunsch. „Ich hatte sogar ganz lange Zeit eine Abneigung gegen die Opern von Richard Wagner“, sagt Margit Petzold. „Eine Freundin von mir ging aus Prinzip nicht da rein, furchtbar, sagte sie immer, so lang. Da habe ich abgeschaltet, weil ich dachte, das ist dann auch nichts für mich.“ Dann lernte sie Elisabeth Bierbach kennen. „Die ist eingeschworene Wagnerianerin“, sagt Margit Petzold. Sie nahm sie ins Dortmunder Opernhaus zu Wagner-Inszenierungen mit, „und das war traumhaft.“ In Dortmund gebe es das Problem, sagt sie, dass das Orchester manchmal zu laut sei. „Mir wurde gesagt, dann solle ich mal nach Bayreuth gehen, da wäre der Klang ganz anders.“ Ihre Erwartung bestätigte sich. „Wir kommen auf jeden Fall wieder. Nächstes Jahr schauen wir uns Lohengrin an.“
Erna Mautz, Reisende
Auch die 74-jährige Erna Mautz aus München ist 2017 das erste Mal in Bayreuth. Im bodenlangen, violett schimmernden Kleid sitzt sie im Shuttlebus, schließt die Augen, als ihr die Sonne ins Gesicht fällt. In ihrem Umfeld, erzählt sie, sei sie die einzige, die sich für Oper interessiere: „Meine Freunde halten mich für verrückt, dass ich mir den halben Ring anschaue“. Etwa eine Stunde bevor der Bus das Hotel verließ, hatte sie kurzerhand, weil noch eine Karte übrig war, auch den Siegfried dazu gebucht, schaut jetzt drei von vier Teilen. „Ich freu mich schon sehr“, sagt sie. Warum sie diese Kompaktreise gebucht habe? „Ich dachte immer, Bayreuth-Karten bekommt man nicht einfach so.“
Die meisten Gesprächspartner bei dieser Reise nennen den selben Grund: die Annahme, auf eine ‚normale‘ Karte müsse man zehn Jahre oder mehr warten. Lange Zeit war das tatsächlich Realität, weil teilweise weniger als die Hälfte der Karten überhaupt in den freien Verkauf gingen. Der Rest war in Form von Kontingenten bestimmten Zielgruppen vorbehalten. Gleichzeitig war die Nachfrage acht bis neun Mal höher als die Zahl der verfügbaren Plätze. Seit 2012 gehen jedoch etwa 65 Prozent der Karten in den freien Verkauf. Dass es ebenfalls seit einigen Jahren auch eine Online-Plattform gibt, auf der man (mit Wartezeit und etwas Glück) auch zu günstigen Preisen Karten bekommt – von 12 Euro (ohne Sicht) bis 325 Euro (guter Platz im Parkett) –, wissen offenbar die wenigsten.
„Ich habe eine Erbschaft gemacht. Jetzt kann ich mir so eine Reise auch leisten“, sagt Erna Mautz. „Mein Grund, hierher zu kommen, ist der Wagner.“ In München habe sie schon viel Wagner auf der Opernbühne gesehen, ihre erste Opernkarte vor Jahrzehnten war ein Geschenk – „die Götterdämmerung“. Von Musik verstehe sie „nicht viel“, sagt sie. Mit dem Begriff „Wagnerianer“ verbindet sie nichts. „Vielleicht ist das jemand, der sich besonders gut mit den Opern auskennt?“, fragt sie. Richtige, waschechte Wagner-Verehrer trifft man bei diesen Reisen also eher vereinzelt. Emeritierte Professoren und Ärzte im Ruhestand, die alle Ring-Uraufführungs-Besetzungen auswendig kennen, oder 90-Jährige, die ein Leben lang als Opernsänger selbst auf der Bühne standen, sind als Gäste zwar anzutreffen, aber eher eine Seltenheit. Der Eindruck bei dieser Ring-Reise: Das All-Inclusive-Paket lockt nicht unbedingt die Wagner-Sehnsüchtigen und frommen Bayreuth-Pilger. Es lockt vor allem die Menschen, die „mal gucken“ wollen, und die sich den durchaus interessierten Besuch ohne größere Probleme leisten können.
„Opera fanatics“ und Normalos
Auf dem Hügel macht aber auch genau das die Mischung: Da sind die, die am Brezelstand mit 100 Euro bezahlen oder bei der Suche nach ihrer Visitenkarte scheineweise halbvergessenes Geld aus ihren Taschen ziehen. Nur wenige Meter weiter stehen Männer im schwarzen Frack, die sich beim Mineralwasser tatsächlich über Wagner unterhalten, und direkt gegenüber das „opera fanatic“-Ehepaar aus Washington D.C., Cathy und Dick Soderquist, über deren extravaganten Auftritt schon unter anderem in der New York Times berichtet wurde. Es flanieren Kunstfreaks mit dichten roten Rauschebärten und viel zu großen Schuhen neben Französisch und Japanisch sprechenden Gruppen total durchschnittlich aussehender Besucher. Dazwischen, mit Programmheft in der Hand, Fotos machend, hellhörig und erwartungsvoll: All-Inclusive-Touristen.
Der Hügel ist eine Blase aus kultivierter Entspanntheit, Pausen-Kaviar, Renommee und auch ein bisschen Richard Wagner. Wahrscheinlich ist das die Stärke dieses Ortes, der so viele verschiedene Klientel anzieht: Er ist die perfekte Projektionsfläche. Verkörperte und gefeierte Tradition, ohne Klimaanlage und Übertitel, und gleichzeitig ein Ort, an dem ziemlich modern mit Wagner experimentiert wird. Leute aus der Region fühlen sich davon ebenso angezogen wie internationale Gäste, Opern-Freaks, Musikwissenschaftler, Musiker und totale Laien – ja, sogar Menschen, die Richard Wagner oder die Oper an sich vielleicht gar nicht einmal mögen. Bayreuth ist Sehnsuchtsort für all jene, die mit Wagners Opern aufgewachsen sind, er ist historisch und ein bisschen mythisch. Gleichzeitig ist er glamourös, ein Sightseeing-Programmpunkt in einem extravaganten Leben – und das am gefühlten Ende der Welt, in den Tiefen der fränkischen Provinz.
© Alexander Gurdon