Von Philipp Quiring, 11.06.2016

Der Zeremonienmeister

Der große Blonde mit dem schwarzen Holz: Martin Fröst ist nicht nur ein begnadeter Klarinettist, in seinem Gesamtkunstwerk „Genesis“ führt er das Publikum auch durch eine Reise zu den musikalischen Wurzeln – nicht nur Skandinaviens.

Mit dreizackiger, grauer Maske läuft Martin Fröst mit seiner Klarinette im Kreis, bewegt sich zwischen Orchester und Publikum hin und her, sinkt auf die Knie und spielt in dieser Position weiter. Mit einem Ausdruck von Furcht in seinem Gesicht stellt er die Klarinette ab, gestikuliert mit den Armen und hält sich immer wieder mit den Fingern die Ohren zu: Wenn der Schwede die Bühne betritt, weiß das Publikum, einerseits was es erwartet. Denn bei ihm kommen herausragende Technik und klanglich unfassbar differenziertes Spiel zusammen. Frei und (über-)natürlich fließt die Musik bei ihm dahin. Doch, als sei dies nicht genug, überrascht er andererseits auch stets mit einer unvorhersehbaren Performance. Wie in der eingangs beschrieben Szene, die der Aufführung des Klarinettenkonzertes von Anders Hillborg aus dem Jahre 1998 eine zusätzliche, performative Ebene verleiht. „Es ist vor allem eine Hör- und Spielerfahrung“, sagt Fröst, „und die Musik funktioniert für sich. Hillborg hat dieses Klarinettenkonzert für mich geschrieben, und ich habe es sehr oft aufgeführt, ich schätze mittlerweile mehr als 300 Mal.“



„Vinterfest ist das Schwedischste überhaupt, was du hierzulande finden kannst. Die Quelle der schwedischen Kultur ist hier – in der Mitte des Nirgendwo. Und hierhin lud ich Freunde ein, mit mir zu spielen.“

Martin Fröst

Nachdem Fröst seinen Heimatort Sundsvall als Teenager verließ, studierte er in Stockholm, später in Hannover bei Hans Deinzer, über den er sagt: „Ich habe da mit dem Klarinetten-Papst gearbeitet, der mir sehr viel über die großen Werke beigebracht hat – das war sehr intensiv, er war der wichtigste Lehrer für mich!“ Was folgte, ist eine Weltkarriere, bei der er – selbstverständlich für jeden Solo-Klarinettisten – regelmäßig all die virtuosen Werke spielt, die sich im Falle seines Instruments an einer Hand abzählen lassen. Neben den Konzerten Mozarts und Webers widmet er sich aber auch zunehmend der Kammermusik. Bei seinen zahlreichen internationalen Auftritten verliert er nie den Kontakt zur Kultur und Region seiner nordischen Heimat. So führt er einige der hierzulande wenig beachteten skandinavischen, insbesondere schwedischen Komponisten auf, deren Musik von der Klassik bis in die Gegenwart reicht. Seine stetig wachsende Reputation und die Kontakte zu Musikerkollegen nutzte er für die Gründung zweier Festivals, die er auch selbst organisierte: eines im norwegischen Stavanger und – mit „Vinterfest“ – eines direkt vor seiner Haustür sozusagen, vor der Kulisse des im Winter zugefrorenen Orsa-Sees.
Auch wenn Fröst nach 10 Jahren die Leitung dieses Festivals aufgab – „Ich hatte das Gefühl, ich sollte die Party verlassen, solange es am meisten Spaß macht“, sagt er darüber –, hat sich sein Ziel nicht geändert: die Vermittlung schwedischer Musikkultur. Seit Beginn zeigt er sich den Komponisten seiner Heimat eng verbunden: Anders Hillborg gehört dabei zu seinen engsten Vertrauten, mit dem er seit Studienzeiten zusammenarbeitet. Im Alter von 18, 19 Jahren erlebte Fröst mit einem seiner Stücke seinen ersten großen Auftritt, spielte seitdem seine Kompositionen immer wieder in Konzerten und auf CD ein. Daneben stieß er bei seiner Auseinandersetzung mit schwedischen Komponisten auch auf von Volksmusik beeinflusste Musik wie etwa von Borisova-Ollas und Karin Rehnqvist.

Projekt der Jahrhunderte

Für sein aktuelles Projekt „Genesis“ greift Fröst ebenfalls auf seine schwedischen Wurzeln zurück – unter anderem. Innerhalb von drei Jahren spielt Fröst mit verschiedenen Orchestern mehr als 20 verschiedene Musiktitel ausgehend von Hildegard von Bingen, über Bartók bis zu Hillborg-Originalkompositionen, Transkriptionen, Improvisationen und Variationen. Was ihn zu diesem Potpourri motiviert, wie das Ganze klingt und ausieht – davon erzählt er im Video-Interview:



„Nun, wie ist die Zusammenarbeit? Gut! Sie ist wie zwischen Brüdern mit viel Energie, nicht immer freundlich, aber sie ist gut.“

Martin Fröst über die Zusammenarbeit für „Genesis" mit seinem Bruder Göran

Bereitschaft, nicht nur die Hör-, sondern auch die Sehgewohnheiten zu ändern, sich auf Neues einzulassen – das erwartet Martin Fröst von den Besuchern des „Genesis“-Projektes. Dafür muss er jedoch selbst wieder einmal in viele Rollen gleichzeitig schlüpfen: spielen, erzählen, neben dem Orchester auch noch einen Chor dirigieren. Rund eineinhalb Stunden dauert dieses inszenierte Konzerterlebnis, und mit fließenden Übergängen zwischen den knappen Einzelwerken entsteht eine übergeordnete Gesamtdramaturgie. „Als Echo der Musikgeschichte“ – wie Martin Fröst sagt. „Genesis“ ist ein großangelegtes, stilübergreifendes Programmkonzept mit jeder Menge schwedischer Musikkultur, deren Entdeckung sich lohnt.



Die Aufnahme zum Genesis-Projekt:


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Hildegard von Bingen, Georg Philipp Telemann, Göran Fröst, Anders Hillborg u.a.

Roots

Martin Fröst, Adolf Fredriks Flickkör, Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Sony Classical

© Mats Bäcker/Sony


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