Von Selina Demtröder, 12.11.2019

Gedächtnispalast

Wenn man in verschiedenen Ensembles selbst Musik macht, bleibt was hängen. Selina Demtröder wurde von vielen Werken geprägt und stellt einige ihrer Lieblingsstücke vor.

Im Laufe eines Musikwissenschaftsstudiums hört man viel Musik. Doch nichts brennt sich so hartnäckig im Gehör und im Herzen ein wie ein Stück, das man probt und zur Aufführung bringt. Meine Playlist beschwört Ensembles, Probenwochenenden, Konzertsäle und Üben am Cello aus meinen Erinnerungen herauf. Wenn ich diese Stücke höre, sehe ich die Noten vor meinem inneren Auge und ich spüre die ersten Töne bereits in den Fingerspitzen. Meine Synapsen sind genauso mit der folgenden Playlist verknüpft wie meine Gedanken, Gefühle und mein Cello.

Mit samtiger Tiefe des Cellos beginnt meine Playlist. Eine alles überwabernde Ruhe macht sich am Anfang von Zygmunt Noskowskisʼ Meerauge breit, die ich verinnerlichen musste, um sie ins Publikum zu übertragen. Als Hilfe dafür prangt neben dem Titel der Noten eine Zeichnung: zwei Kreise, ein kleiner, ein großer, umgeben von formvollendeten Dreiecken. Voilà, ein Bergsee bei Mondschein, das Meerauge. Die dunklen Liegetöne fungieren dabei als das Ufer des Sees, das nach den doch recht lebendigen Melodien für einen spiegelglatten See, unbeschadet wieder erreicht wird. Das rege Treiben des Sees weicht dem erneuten Aufkommen der tiefen Ruhe in mir. Jedes Mal aufs Neue.

Ein bisschen weniger ruhig geht es mit dem armen Zauberlehrling von Paul Dukas weiter. Selten hat es solchen Spaß gemacht, eine Geschichte zu erzählen. Die immer gleiche Melodie hüpft zunächst vergnügt umher, wird stolz, als dem Lehrling kleine Zaubereien gelingen. Doch durch Tempo, Dynamik 42 und immer dichtere Orchestration geht sie in ein gehetztes Chaos über. Der Zauberlehrling hat sich überschätzt. Nach dem ersten Einbruch der lauten Unordnung, bei dem die heikle Situation gelöst scheint, bahnt sich mit dem Einsatz des Kontrafagotts die letzte bedrohliche Steigerung an. Besonders großen Spaß macht es, die Akkorde 9 in einem Affenzahn über alle vier Saiten zu jagen und das ängstliche Zittern des Zauberlehrlings durch Tremoli und Triller darzustellen. Ein wangenrötendes Stück, in dem die Magie durch das abschließende schüchterne Bratschensolo perfekt wird.

  1. Was für orgiastische Zustände: Mindestens drei Töne gleichzeitig bilden einen Akkord, Ausnahmen bestätigen die Regel. Tri-tra-trullala, das ist der Durakkord. Die Familie der Akkorde ist groß: Quartsextakkord, Septnonakkord und verminderter Akkord.Viel Spaß beim Rätseln. (CW)

  2. In dieser Schublade schlummert sehr viel: Die Lehre der Dynamik hat alles unter ihrer Kontrolle, was mit Lautstärke zu tun hat. Egal ob fließende Veränderungen, einheitliche Stufen oder abrupte Veränderungen der Lautstärke. Ein bisschen Italienisch schadet da nie, jedenfalls bei alter Musik. Viva il volume! (CW)

Einfach den wunderbaren Melodieverflechtungen lauschen und lächeln.

Um sich von diesem Abenteuer zu erholen, folgt ein etwas ungewöhnlicherer Titel. Mit dem zweiten Satz des Tubakonzertes von Ralph Vaughan Williams komme ich runter und lasse die Gedanken kreisen. Wenn ich Meditieren würde, käme ich der inneren Vervollkommnung bei diesem Satz wohl am nächsten, denn er birgt das Potenzial, spirituelle Tiefe zu erreichen. Die Chakren werden durch den seichten Streicherteppich geöffnet, während die pulsierenden Tempowechsel die Körpersäfte in Wallungen bringen. Die singende Tuba, die sich über all dem erhebt, verhilft zur Trance und Erkenntnis der Seele.
Da ich aber nicht meditiere: einfach Augen zu, atmen und den wunderbaren Melodieverflechtungen lauschen. Lächeln.



Nach dem vielen Blech zurück zur vollen Dröhnung Streicher. In der Suite For Strings von Leoš Janáček eröffnet sich in sechs Sätzen alles, was das Streicherherz begehrt. Nach wetteifernden Rhythmen erklingen gestochen scharfe Höhen, die an die Grenzen des Trommelfells kommen. In dieser Probenphase war ich einer Sehnenscheidenentzündung gar nicht fern. Im Konzert nutzte ich dann den zweiten Satz ohne Bässe und Celli, um meinem Arm magisch Kraft durch das intensive Hören einzuflößen, damit ich frisch in die folgenden Sätze starten konnte. Seitdem frage ich mich, warum ich nicht viel mehr Janáček höre und ob Musik heilende Kräfte hat. Durch diese Suite heilt auf jeden Fall immer ein kleines Stück in mir.

Beenden möchte ich die Playlist mit einem aufstrebenden Klassiker, dem eigentlichen „King in the North“. Das Violinkonzert von Jean Sibelius. Der rhythmisch beschwingte dritte Satz voller Kraft wird zum Teil in einer reduzierten Besetzung gespielt, zu der ich glücklicherweise gehören durfte. Durchgängig ließ ich also meinen Bogen, hoffentlich präzise, zur Solovioline springen. Mit den gegeneinander verschobenen Akzenten von Violine und Orchester war dieser Satz eine besondere Herausforderung. Umso größer der Hörgenuss, wenn man die schwierigen Stellen erkennt und sie, von Profis gespielt, exakt übereinander passen. In diesem Fall von Hilary Hahn, die mit ihrer Präzision mitten ins Herz sticht. Selbst Jon Snow würde danach nicht mehr aufstehen. Hier also ein bisschen Schwung und Motivation für die nächste Herausforderung, die vor einem liegt.

© Noten: Selina Demtröder
© Pixabay


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