Eigentlich müsste die Box doch ihr Feind sein. Der kleine schwarze Kasten auf dem Boden steht in der Mitte der „LGT Young Soloists“, die die Box in einem Halbkreis umringen. „Ihr müsst wirklich aufpassen, dass es nicht zu zerbrechlich wird. Es muss schon noch Kern haben“, sagt der Tonmeister Jakob Händel durch die Lautsprecher. „Und gleich im zweiten Takt – zweite Geigen: Ihr seid da etwas zu tief.“ Die Musikerinnen und Musiker stehen im Kirchenschiff. Sie und Händel trennen dicke, kalte Steinwände. Händel hört drei Tage, so lange dauert die Aufnahme, ungesehen zu, unterbricht manchmal schon nach einer Note und urteilt mittels Mikrofon aus der Sakristei der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem, dort, wo die liturgischen Gewänder, der Messwein und die Hostienschalen stehen. Heute lenkt der Tonmeister von diesem Aufbewahrungsraum der sakralen Religionsgegenstände die CD-Aufnahme der Einspielung „Nordic Dream“ des jungen Ensembles „LGT Young Soloists“, bestehend aus Hochbegabten, die sich zu einem Projektorchester formieren.
Wunderkindensemble?
Als Violinist Alexander Gilman und Pianistin Marina Seltenreich 2013 dieses Ensemble ins Leben gerufen haben, wollten sie junge Musikerinnen und Musiker aus einem pädagogischen und sozialen Aspekt zusammenbringen, wie sie auch im niusic-Interview 2017 betonten. „Als ich so alt war, war ich in der Schule durch meine Liebe zur klassischen Musik und meine Ambitionen in diesem Bereich der absolute Sonderling, und wir wissen, wie verurteilend Kinder sein können. Ich habe mich eigentlich nie richtig gefühlt, habe fast nur in meinem Zimmer gesessen und geübt. Kein erfolgreicher Musiker hatte eine normale Kindheit“, sagt Gilman. Mittlerweile existiert das Ensemble seit fünf Jahren, und jetzt liegt neben einer DVD die zweite CD-Einspielung vor. Die Idee hinter den „LGT Young Soloists“ ist simpel, aber stark: jungen Musikerinnen und Musikern zwischen 12 und 23 Jahren eine Plattform zu geben, sich durch die Liebe zur Musik mit Gleichgesinnten zu vereinen. Zu einem herausragenden Ensemble, das vom Solo über kleine Besetzungen bis zum Ensemble alles kann und die Hochbegabten nicht als Einzelkämpfer definiert.
Es gibt viele Vorurteile über Tontechniker – sie seien arrogant, cholerisch, herablassend und eigentlich sei ihnen nie etwas gut genug. Und: Sie würden am liebsten bis zum Sankt-Nimmerleinstag im Ping-Pong die jeweiligen Musikerinnen und Musiker zu einem noch detaillierteren, noch präziseren und noch perfekteren Endergebnis triezen.
Händel macht es anders. Er verführt jedes Mitglied des Ensembles zur Höchstleistung. Nur durch seine sonore, warme und seelenruhige Stimme: „Sehr schön. Viel besser, aber lasst uns da doch noch ein wenig Material sammeln, dann klingt es noch besser.“ Und trotz des verdammt jungen Durchschnittsalters im Ensemble weiß natürlich jede und jeder der „LGT Young Soloists“, was Händel wann, warum und wie sagt. Sie verstehen seine rhetorischen Griffe und Kniffe, seine manipulativen Lockmittel – aber es dient einem höheren Zweck. Und er macht es so charmant, dass sie die Box anschmunzeln, sie annicken oder sich zu ihr drehen, obwohl der Tonmeister sie nicht sehen kann und das, was er hört, wird nicht von der Box aufgenommen, sondern direkt über ihren Notenständern. Aber Händel hat es geschafft, dass die Box lebendig wird. Alle behandeln das kleine schwarze Ding wie ein Lebewesen, das helfen und nicht nörgeln will.
Sechzehn Titel aus zehn Werken von neun verschiedenen Komponisten, sechzehn Musikerinnen und Musiker, zehn werden im Wechsel solistisch spielen und alles, was letztlich zu hören sein wird, liegt weit außerhalb des gebetsmühlenartig gespielten Kernrepertoires. Vom Komponisten Ole Bull über Jean Sibelius bis hin zur Weltersteinspielung „Two Poems für Kontrabass, Harfe und Streichorchester“ von Jan Alm – alles wurde von Nordlichtern komponiert. Die Auswahl der Stücke ist ausgeklügelt, kein zerhackstückselter Salat aus Einzelsätzen – viele Werke wurden aufgrund der Ensemblegröße in Bearbeitungen verwendet.
Es ist erschreckend. Es ist erschreckend, wie wichtig eine öffentliche CD-Aufnahme für ein Publikum sein könnte, weil es nicht nur in die Entstehung von Musik horchen lässt, sondern auch den Spiegel vorhalten kann und im besten Falle uns selbst und unser Hörverhalten verändert. Die Violinistin Christa-Maria Stangorra und der Bratscher Benedict Mitterbauer widmen sich Kurt Atterbergs Suite Nr. 3, op. 19 Nr. 1. Das Prelude konfrontiert einen schlagartig mit einer Art Herzrhythmus, aus dem eine immer voluminöser werdende Geigenvokalise 270 entspringt. Fragil, aber mit einer intrinsischen Energie, dass es das Ohr benebelt. „Stopp. Bitte am Anfang die Intonation besser ausbalancieren und bei aller Musikalität, die ich wirklich sehr genial finde, schaut, dass ihr bitte nichts verschleppt“, so Händel. Als Zuhörer wirkt es fremd, wenn der musikalische Faden so scheinbar jäh zerrissen wird, und man wird latent aggressiv auf die Stimme in der Box, weil sie erstens meckert und zweitens den Zuhörer um sein Weiterhören beraubt hat.
Da hat jemand die Worte gestohlen! Eine Vokalise ist im Ursprung ein Lied ohne Worte, es wird lediglich auf Vokale geträllert. Deshalb haben im 19. Jahrhundert Vokalisen für den Gesangsunterricht geschrieben, dann mussten die Sänger sich beim Training nur auf Töne konzentrieren. Später wurde das Training zur Kunst, die Vokalisen zur musikalischen Gattung. Das bekannteste Beispiel ist von Sergei Rachmaninow. Ein Klavier begleitet eine Sängerin, die die Melodie vokalisiert. Und dennoch wird viel gesagt! (CW) ↩
Das Ensemble hat aber wohl nur auf sein Eingreifen gewartet, alle nicken verständnisvoll, und beim Hinweis auf den sukzessiven Tempoverlust grinsen sie, als fühlten sie sich von der Großmutter ertappt, nachdem man sich am Naschschrank bediente. Gut. Dann nochmal von vorne. Wieder der Puls der Musik, das drängende Aufschwellen und – Korrektur. So geht das eine Weile, bis man sich an den Ritus gewöhnt und mitspielt auf der detektivischen Suche, was eben noch einen Ticken besser sein könnte oder welches Detail man im großen Ganzen nicht beachtet, bedacht oder gehört hat. Und irgendwann scheint ein genereller Knoten gelöst, und das Hin und Her über die Detailfrage am Anfang scheint allen etwas aufgeschlossen zu haben, was für den ganzen ersten Teil etwas Neues offenbart. Zweimal ohne Unterbrechung spielen die „LGT Young Soloists“ den ersten Satz – als Zuhörer lernt man diese spontan scheinende Perfektion als etwas Rares, als etwas Kostbares zu schätzen.
Wer einmal eine helle Juni-Nacht in Skandinavien erlebt hat, erhält vielleicht einen Eindruck, warum die Musik der nordischen Komponisten im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert einen so unbeschreiblich eigenen Zauber hat.
Alexander Gilman, künstlerischer Leiter LGT Young Soloists
Das in unser Weltbild gefräßte Vorurteil, die Jugend sei oberflächlich sentimental, nicht zum tiefgründigen Gefühl befähigt und – Zyniker beweinen das häufig – hoffnungslos dabei, im Medienrausch sich selbst zu ertränken: Jeder, der das dachte, wird bei dieser Aufnahme-Session nachhaltig korrigiert. Wenn wir alle unseren Beruf als eine solch professionelle Berufung verstehen würden, dann wäre nichts mehr, wie es ist. Die „LGT Young Soloists“ sind in erster Linie nicht blutjung, sondern professionell, diszipliniert, tiefschürfend musikalisch und eines der besten Projekte, wenn es um die Zukunft der Musik geht.
Die „LGT Young Soloists“ bei den Dresdner Musikfestspielen
Wer die „LGT Young Soloists“ live erleben möchte, hat am 12. Mai Gelegenheit dazu: Die jungen Musiker*innen sind zu Gast bei den Dresdner Musikfestspielen. Im Palais im Großen Garten spielen sie ab 20 Uhr Kompositionen von Tartini, Holst, Waxman, Wirén, Paganini und Bottesini für verschiedene Soloinstrumente mit Orchesterbegleitung und für Streicherensemble.
© Marina Seltenreich
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