Schneller, höher, weiter! Virtuosen sind Menschen der Extreme, Grenzgänger, Alleinherrscher. Nicht umsonst wurde ihnen in der Vergangenheit oft die Aura des Übersinnlichen, ja Dämonischen zugesprochen. Etwas aufgeklärter ist der heutige Blick auf diese Leistungssportler des Instrumentalbetriebs schon, trotzdem hat sich das romantische Pathos hartnäckig erhalten. Und kein Instrument ist – nach Ansicht vieler Geiger – dafür besser geeignet, als die Violine. Kein Wunder, dass der ein oder andere die Augen verdreht, wenn ein Paganini-Nachfolger seinen Personenkult pflegt wie seine Kadenzen. Misstrauisch wird jede schillernde Geiger-Persönlichkeit und deren Output betrachtet. Vadim Gluzmans gelobten Prokofjew-Einspielungen ergeht es nicht anders. „Auf ein Neues“, denkt man, in Erwartung großer Gefühlsausbrüche, exzentrischen Gefrickels und energischer Bogenführung. Dann legt man die CD ein, drückt auf „Play“ und erlebt eine Überraschung.
Aus Sergei Prokofjews Kompositionen lassen Gluzman, Neeme Järvi und das Estonian National Symphony Orchestra einen fesselnden Mikrokosmos entstehen. Überall gibt es etwas zu entdecken in dem Harmonie-Irrgarten des ersten Violinkonzerts! Gluzmans Spiel ist trotz verblüffender Fingerfertigkeit und unerschütterlichem Nachdruck erstaunlich zart. Auf gläsernen Schwingen entfliehen die Kantilenen 60 in die Geborgenheit des makellosen Orchesterklangs. Das überaus agile Ensemble streut kleine sinfonische Breitseiten russischen Charakters ein, die ebenso schnell verklingen, wie sie gekommen waren. Man kann nur ahnen, welchen enormen Aufwand Neeme Järvi in die Ausarbeitung des irgendwie intimen, irgendwie aber auch zutiefst offenen Stückes gesteckt haben muss. Sowohl Solist, als auch Orchester setzen die mannigfaltigen Gestaltungsideen mit hoher Reaktionsfreudigkeit um und schicken den Hörer auf einen Prokofjew-Trip der Extraklasse. Nichtmal der Blick über die Schmalzgrenze fehlt – am Ende des 3. Satzes.
In Deutschland meint man es mit der Kantilene gut: Es ist eine Melodie, meist sehr getragen im Charakter, und sie verfolgt einen den ganzen Tag. Ein Ohrwurm? Ja, oder vielleicht ein Ohrwurmfetzen. In Italien ist der Begriff eher diffamierend und bezeichnet eher abfällig abgedroschene Lieder. (CW) ↩
Zwischen jazzartigen Bassläufen und herabtropfenden Holzbläser-Klecksen findet man sich staunend inmitten der eigentümlichen Agogik des zweiten Violinkonzerts. Eine ganze Spur düsterer geht es hier zu, jedoch nicht weniger fantasievoll. Kommt da nicht gerade ein bayrischer „Zwiefacher“ um die Ecke? Gemütlich tanzend torkelt der ungerade Takt 89 vorbei, weicht bittersüßem Klagegesang. Die Stimmungen wechseln hier schneller, als man „Gluzman“ sagen kann und enden mit einem unerhört banalen Abschied. Fertig, Schluss, do svidaniya! All das geschieht, nicht zuletzt Dank der feinfühligen Umsetzung, aber nie so, dass der Hörer den Eindruck vom musikalischen Wühltisch bekommt. Überhaupt ist von Übersättigung nie etwas zu spüren. Zugegeben, ein wenig fehlt in der Aufnahme der Wums im tiefen Register, aber das fällt bei so viel Klangerlebnis kaum auf.
Ordnung muss ja schließlich sein! Der kleinste Raum eines Musikstückes ist der Takt, er hat eine gewisse Anzahl von Schlägen und will komplett gefüllt sein, egal ob mit Noten oder mit Pausen. Und es gehört eine Portion Mathematik dazu, weil die Taktart als Bruch mit Zähler und Nenner vorgeschrieben wird. 3/4: mh da da, mh da da ... (CW) ↩
Dann gibt es da immer noch das Stück auf fast jeder CD, das auch noch mit drauf musste – in diesem Fall Prokofjews Violinsonate in D-Dur. Es ist schade, dass dieses hörenswerte Übungsstück so am Ende dieses großartigen Albums hängt, statt exponiert zwischen den Konzerten zu stehen. Verkraftet hätte es dieses Werk auf jeden Fall, denn hier kann man Vadim Gluzman und seine Stradivari, die einst Leopold Auer spielte, einmal im absoluten Fokus betrachten. Der Eindruck: Man kann es anders machen, aber so ist es perfekt. Satte Bogenführung mit unfassbarer Ausdauer, eine seltsam leichtfüßige Vehemenz hinter jeder Note und nicht zurückhaltendes Vibrato. Chapeau, so etwas hört man selten!