Von Ida Hermes, 23.01.2020

Das große Nichts

In einem Keller in Köln Ossendorf ruht ein unendlich großer Schatz: das „Studio für elektronische Musik“ des WDR. Seit fast zwanzig Jahren versucht man, eine Zukunftsperspektive für das Studio zu finden, bisher ohne Erfolg. Müssen Kulturgüter erst der Zeit zum Opfer fallen, bis man sich ihres Wertes besinnt?

Es erinnert ein wenig an den dystopischen Spielfilm-Klassiker „Brazil“, von Terry Gilliam, 1985. Überall sind Rohre, Rohre, die nirgendwo hinführen und sich doch überall verknoten, sie sprießen aus den Wänden, der Decke, dem Boden, hässliche Symptome eines Systems, in dem alles viel zu kompliziert ist und nichts funktioniert: Es regiert die Willkür – und man kann nichts dagegen tun.

Sicherlich wäre es eine schier unsägliche Dreistigkeit, die durch und durch überzeichnete Welt von „Brazil“ auf die Realität zu übertragen. Doch manchmal kommt man leider nicht umhin. Und so, wie es in Brazil eigentlich nur um eine Fliege geht, die zum falschen Zeitpunkt in die Druckmaschine gerät und eine fatale Kettenreaktion auslöst, so geht es auch hier eigentlich nur um eine Kleinigkeit – nein, genau genommen sogar um: nichts.

Von der Avantgarde möchte man nichts mehr wissen

Dieses „Nichts“ passiert beim Westdeutschen Rundfunk in Köln nun seit rund zwanzig Jahren. Es geht um das Vermächtnis des Studios für elektronische Musik, des legendären Ortes, an dem Karlheinz Stockhausen, John Cage, Pierre Boulez, Mauricio Kagel und so viele andere bedeutende Komponisten seit den fünfziger Jahren ganz neue Formen von Klang erforschten, mit Sinustönen experimentierten, die serielle Musik vorantrieben, indem sie versuchten, jeden einzelnen Parameter zu kontrollieren; gleich einem Team von Wissenschaftlern in diesem Labor das Neue erforschten, um ihre Erkenntnisse für eine nie gehörte Art von Musik zu nutzen. Der WDR investierte unglaubliche Summen, Köln wurde zum Knotenpunkt der Avantgarde.

Von dieser Avantgarde möchte man heute, so scheint es, nichts mehr wissen. Schon vor zwanzig Jahren stellte man die Produktionen ein, die Geräte galten als veraltet und sollten verschrottet werden. Prof. Karl Karst, Programmchef des Kultursenders WDR 3, setzte sich damals für den Erhalt des Studios ein. Heute ist alles im Souterrain eines Industriegebäudes in Köln Ossendorf untergebracht, voll funktionsfähig, doch weitestgehend ungenutzt. Der Weisheit letzter Schluss ist das freilich nicht, eine andere Lösung soll sich finden, doch – um mal so richtig tief in die Floskelkiste zu greifen – es ist der Wurm drin.

Der Geburtsort von Karlheinz Stockhausen: Haus Mödrath bei Kerpen

„Das Ganze ist ein großes Rätsel“, so ein Verantwortlicher der Stiftung Haus Mödrath, einem alten Herrenhaus in der Nähe von Kerpen, westlich von Köln. Vor fünf Jahren hat der Investor und Kunstsammler, der hier lieber anonym bleiben möchte, im Kölner Stadtanzeiger von der ungewissen Zukunft des Studios für elektronische Musik gelesen und sich gleich beim WDR gemeldet. „Das Haus Mödrath wurde 1830 erbaut und hier kam 1928 Karlheinz Stockhausen zur Welt, es wurde damals als Wöchnerinnenheim genutzt. Mein Gedanke ist also gewesen, das Studio und den Geburtsort von Karlheinz Stockhausen zusammenzuführen“, erklärt er, und entschuldigt sich: „Natürlich soll man die Bedeutung dieses Ortes nicht überbewerten. Aber immerhin ist ein Kontext da und es gibt hier jede Menge Platz, um einen optimalen Raum zu schaffen für das Studio.“

Im oberen Geschoss eines alten Pferdestall- und Bürogebäudes gleich neben Haus Mödrath könne der WDR das Studio für elektronische Musik genau einpassen. Die Räumlichkeiten stelle man gerne mietfrei und auf unbegrenzte Zeit zur Verfügung. Einzig für die Renovierungsarbeiten und die Installation soll der WDR eine Beteiligung zahlen und sich um die Bespielung des Studios kümmern. Etwa jungen Komponistinnen und Komponisten die Möglichkeit geben, den Ursprüngen der seriellen Musik an den originalen Geräten nachzufühlen; Artist-in-Residence-Programme ermöglichen, Konzerte, Ausstellungen und Radio-Übertragungen veranstalten, das Studio der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen.
Zu diesen Überlegungen gibt es bereits ein zwölfseitiges Konzept: Gemeinsam mit Hochschulen, der Stadt Köln und dem Land Nordrhein-Westfalen möchte man den neuen Standort als „Auditorium, Laboratorium, Wunderkammer“ präsentieren. Vor zwei Jahren nahm der WDR das Angebot der Stiftung an, bewilligte bereits 550.000 Euro zur Renovierung.

Der WDR möchte das Studio loswerden

Doch seitdem tut sich nichts. Die Stiftung Haus Mödrath möchte nach fünf Jahren Wartezeit nun endlich das Gebäude renovieren, man betrachtet die Kooperation als vorläufig gescheitert. „Die Landesregierung hat sich sehr große Mühe gegeben, alle Beteiligten an einen Tisch gebracht. Doch alle Apelle an die Verantwortung für ein so hohes kulturelles Gut haben am Ende nicht zum Erfolg geführt.“ kommentiert die Stiftung Haus Mödrath. Auf ihrer Website hat sie in der letzten Woche mitgeteilt, der WDR habe das Angebot verstreichen lassen. Beim WDR ist man für ein Gespräch nicht bereit, entgegnet aber in einer offiziellen Stellungnahme:

„Den Behauptungen auf der Homepage des Haus Mödrath zum „Studio für elektronische Musik des WDR“ widersprechen wir deutlich. Der WDR hat dem Haus Mödrath keine Absage erteilt. Vielmehr ist es so, dass es trotz zahlreicher Gespräche mit möglichen Partnern bislang nicht gelungen ist, eine funktionierende Trägerschaft und damit eine langfristige Finanzierungsstruktur aufzubauen. Der WDR setzt sich weiterhin dafür ein, das „Studio für elektronische Musik“ in eine öffentliche Einrichtung zu übergeben und wird daher weitere Gespräche mit Interessenten führen.“

– Pressestelle WDR

Der WDR möchte das Studio für elektronische Musik also nicht selbst betreiben, sondern es schlichtweg loswerden. Die öffentliche Hand soll übernehmen, Stadt- und Landesregierung sehen sich laut Stiftung Haus Mödrath dazu anscheinend nicht in der Lage. Die Sache ist vertrackt. „Ich kann als Privatperson die Verantwortung für das Studio in keinem Fall übernehmen, so gerne ich es gut untergebracht wüsste“, sagt der anonyme Mäzen.

Ist die Wirklichkeit von „Brazil“ am Ende gar nicht so sehr überzeichnet?

In Fachkreisen besteht derweil Konsens darüber, dass der Wert des Studios gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Volker Müller, einstmals Toningenieur von Karlheinz Stockhausen und heute einziger „Pfleger“ des Studios für elektronische Musik, hält laut einer Recherche des VAN Magazins grundsätzlich nur eine Lösung innerhalb der Stadtgrenzen von Köln für richtig, das Studio in die öffentliche Hand abzugeben sei allerdings unvorstellbar. Das größte Problem sei momentan aber nicht der Standort, sondern die Instandhaltung der Geräte, die teuren Ersatzteile, das Wissen um die Bedienung der Geräte, das Müller derzeit an niemanden weitergeben kann.
Dass der WDR die Sache offenbar einfach aussitzen möchte, ist umso fataler – denn es geht auch um das unmittelbare Erbe der Rundfunkanstalt. Ohne ihre Zustimmung und Mitarbeit kann wohl auch in den kommenden zwanzig Jahren nicht viel passieren.

Schließlich hängt daran auch die Frage, wie man eigentlich umgeht mit den kulturellen Schätzen der jüngeren Vergangenheit. Mit Dingen, die gerade noch als veraltet galten, überholt wurden von neuen Ideen – müssen sie erst ganz vergehen, der Zeit zum Opfer fallen, bevor man sich ihres Wertes besinnt? Müssen die Kunst, die Kultur, die Utopien, am Ende nicht nur in der Film-Dystopie von „Brazil“ dem System zum Opfer fallen, der Bürokratie, dem Unwillen, der Ignoranz? Ist es in der Wirklichkeit genauso? Überzeichnet der Film gar nicht so sehr, als dass er vielmehr schon damals den Finger genau in die Wunde legte? Man muss wohl auf ein Wunder hoffen. Und auf ein weit größeres als Terry Gilliams scheiternden, aber ja dennoch himmelhoch fliegenden Superhelden.



© WDR
© Deutschlandradio / Alexis Fritz
© Stiftung Haus Mödrath


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