Von Anna Vogt, 04.11.2016

Schnarchkonzert

Manchmal fühlt es sich an, als würde im Laufe des Lebens die glühende Romanze mit der Musik zu einer abgeklärten Langweiler-Beziehung. Wo sind Gänsehaut und Glücksanfälle geblieben? Ein Plädoyer für die Begeisterung.

In Berlin gibt es diese kleine, ältere Frau. Ich glaube, sie kommt aus Japan. Sehr oft steht sie am Eingang einer der Berliner Kulturtempel, auf der Suche nach einem freundlichen Spender, der ihr eine Karte überlässt – und zwar gratis. Für mich ist sie ein Mysterium, aber ein tolles. Denn jedes Mal, wirklich jedes Mal begegnet man ihr später im Saal wieder. Immer scheint sie jemanden gefunden zu haben, der sie mit einer Konzertkarte glücklich macht und durch den sich ihr allabendlicher Einsatz auszahlt. Dann strahlt ihr Gesicht Freundlichkeit und Dankbarkeit aus und vor allem: Begeisterung. Was wirklich in ihr vorgeht, weiß ich natürlich nicht. Aber für mich ist diese Frau wie die Utopie des perfekten Zuhörers: aufmerksam, hochkonzentriert, emotional voll dabei. Was für eine glühende Liebe zur Musik muss sie verspüren, was für eine Neugierde auf Orchester, Künstler, Stücke! In der Pause unterhält sie sich freundlich-höflich mit anderen Besuchern, vielleicht ihren Karten-Spendern. Und nach dem Konzert holt sie ihr Gepäck von der Garderobe – Isomatte und Schlafsack – und verschwindet in die Berliner Nacht, wer weiß wohin.

Musik erleben oder einfach nur konsumieren? Diese Grundsatzfrage stellt sich bei jedem Konzert, in jeder Opernaufführung aufs Neue.

Mit ihrer extremen Hingabe führt sie mir auch vor Augen, wie abgestumpft wir anderen oft das Berliner Konzertleben konsumieren, anstatt es zu erleben. Klar, manchmal hat man einfach keine Lust, ist müde oder der Magen knurrt. Dann wäre man lieber am nächsten Falafel-Stand oder im warmen Bett. Manchmal ertappe ich mich dabei, eher aus Pflichtbewusstsein in ein Konzert zu gehen, weil ich eine Kritik schreiben „muss“ oder die Karte schon zugesagt hatte und nicht mehr absagen kann. Der Musik zuzuhören, wirklich zuzuhören und sich nicht nur berieseln zu lassen oder die Zeit abzusitzen, ist manchmal emotionale Schwerstarbeit. Das fordert dann Energie und ein offenes Herz und den Willen dazu. Und auch die Bereitschaft, für solche Erlebnisse Platz zu schaffen im Alltag. Denn wenn man sich auf eine Mahler-Sinfonie so einlassen will, wie sie es verdient (und man selbst auch), dann hilft einem dabei nicht, wenn man nach einem anstrengenden Arbeitstag schnell ins Konzerthaus hetzt und während des ersten Satzes im Kopf die To-Do-Liste des nächsten Tages wälzt.

Vielleicht ist es ein guter erster Schritt, sich dieser glühenden Romanze zu erinnern, die einen anfangs mit der Musik verband. Vielleicht begann sie mit einer noch undefinierten Faszination, vielleicht mit wund gespielten Fingern und Gänsehaut-Schüben bei Jugendorchester-Projekten, mit stundenlangem Anstehen in der Kälte für besonders begehrte Studenten-Karten oder mit endlosem Ausharren auf unbequemen Stehplätzen, um zum ersten Mal eine Wagner-Oper zu sehen. Und das alles aus einer Herzens-Begeisterung für eine unaussprechlich tolle Sache. Ist es unumgänglich, dass diese Romanze irgendwann zur routinierten Beziehung wird, wenn man sich lange und vielleicht sogar beruflich miteinander befasst? Wird man im Laufe der Jahre einfach faul oder womöglich sogar abgestumpft gegenüber den grandiosen kulturellen Möglichkeiten, die uns vor allem in den großen Städten offenstehen und uns bisweilen überfordern? Antworten hab ich darauf keine, aber den wieder frisch gefassten Vorsatz, meine Begeisterung zu hüten wie einen wertvollen Schatz.

Das muss ja nicht so enden wie bei jenem Opern-Fan, der vor einer Woche das Publikum in der New Yorker Metropolitan Opera in Angst und Schrecken versetzte, als er während der zweiten Pause einer Rossini-Vorstellung ein mysteriöses weißes Pulver in den Orchestergraben rieseln lies. Keine gute Idee in Zeiten der Terror-Angst: Die Vorstellung wurde abgebrochen, der Saal geräumt. Zum Glück war der unheimliche Staub zumindest nicht giftig. Der Zuschauer war extra nach New York gereist, um die Asche seines Mentors, eines zu Lebzeiten ebenso glühenden Opernfreundes, in den ehrwürdigen Hallen der MET zu verstreuen. Begeisterung und Wahnsinn liegen manchmal erschreckend nahe beieinander.

© Studio tdes/flickr.com/CC BY 2.0
© Davina Ware/flickr.com/CC BY-SA 2.0


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