Von Lisa Schön, 19.11.2019

In guter Gesellschaft

Die Jenaer Philharmonie arbeitet mit dem Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini an einem fünfjährigen Mahler-Scartazzini-Zyklus. Zu jeder Mahler-Sinfonie entsteht eine Neukomposition. Sie haben sich viel vorgenommen.

Ein kleiner Saal, voll bis zum Bersten. Zehn Abende, Mahler und Scartazzini. Es ist der 7. November 2019 und das dritte Konzert einer Reihe, die die Jenaer Philharmonie unter Leitung des Generalmusikdirektors Simon Gaudenz entwickelt hat. Insgesamt fünf Jahre arbeiten sie mit dem Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini zusammen, der für jede der zehn Mahler-Sinfonien eine dazugehörige Neukomposition schreibt. Die Werkpaare füllen jeweils einen Konzertabend im Volkshaus Jena, wobei die Uraufführungen im Laufe der Reihe aneinandergehängt werden. Am Ende soll eine unabhängige Neukomposition stehen.

„Wenn wir schon nicht mit der Manpower der großen Orchester mithalten können, schlauer als sie können wir trotzdem sein.“

Simon Gaudenz

Am Morgen desselben Tages sitzen Simon Gaudenz und Andrea Lorenzo Scartazzini im Verwaltungsgebäude der Jenaer Philharmonie. Sie erzählen über das Vorhaben, Anstöße, Inhalte. Das außergewöhnliche Konzertprojekt begann so: In Jena sollte ein Mahler-Zyklus in Angriff genommen, etwas Neues gewagt werden. An sich wäre das schon genug Arbeit gewesen, doch Simon Gaudenz wollte weiter gehen, etwas aus der heutigen Zeit dazunehmen. Für die Stelle des Composer in Residence sprach er den mehrfach ausgezeichneten Schweizer Komponisten Scartazzini persönlich an. Beide kommen aus Basel, haben zahlreiche gemeinsame Freunde, doch erst durch das Projekt lernten sie sich kennen. Schon beim ersten Treffen kam Gaudenz direkt mit der Anfrage für den Zyklus, keine weitere Ausschreibung, kein Auswahlverfahren. „Es war ein Blindflug“, sagt er, „mit einem Komponisten fünf Jahre zusammenzuarbeiten, mit dem man nie zu tun hatte. Irgendwie wusste ich aber von Anfang an, das wird gut. Und meinem Bauchgefühl konnte ich bisher immer vertrauen“. Aus der Idee wurde Realität. Die bisherige Resonanz des Publikums ist sehr gut, bei den ersten beiden Konzerten gab es Standing Ovations. Ein Erfolg, den Scartazzini auch den Uraufführungen zuschreibt. Und Gaudenz ergänzt: „Wenn wir schon nicht mit der Manpower der großen Orchester mithalten können, schlauer als sie können wir trotzdem sein.“

Scartazzini beschreibt eine Verbundenheit zu Mahler, die er bei anderen Komponisten nicht spürt. „Ich versuche mich in meinen Stücken so zu positionieren, dass es Bezüge zu Mahler gibt, ich mich ihm aber nicht direkt ausliefere.“ Er lacht und betont, dass er nichts zitieren möchte. Gerade bei der dritten Sinfonie, die in ihrer Länge und Klangfülle heraussticht, sei es herausfordernd, einen Platz neben Mahler zu finden. „Der dritten Sinfonie Mahlers liegt ein Stufenplan zugrunde, jeder Satz beleuchtet einen Aspekt des irdischen Daseins”, erklärt er. „Zuerst die unberührte Natur, dann die Blumen, Menschen, danach Engel und am Ende die göttliche Liebe. Da habe ich mehr zum Scherz gedacht: Mensch, was hat er vergessen?“. Also schreibt Scartazzini „Spiriti“, ein Stück über Naturgeister, und macht seine Komposition an einem inneren Bild fest: ein großer See bei Nacht, Mondschein, tänzelnde, unsichtbare Wesen. Die Leichtigkeit des Bildes steht im Gegensatz zur dritten Sinfonie. Klanglich verwendet er dafür Perkussionsinstrumente. Sie hätten etwas Versponnenes, Zartes. So, sagt er, kann das Stück bestehen, „indem es nicht die direkte Konkurrenz sucht.“

Andrea Lorenzo Scartazzini im Interview

Der Kommunikation zwischen Gaudenz, Scartazzini und dem Orchester ist Kern des Gelingens. Scartazzini kennt inzwischen die einzelnen Orchestermitglieder mit Namen. Schon jetzt planen Dirigent und Komponist für die sechste, siebte und achte Sinfonie. Auch wenn Scartazzini insgesamt autonom arbeitet, halten die beiden sich gegenseitig auf dem Laufenden. Zeit für Rückfragen gibt es immer. Beide beschreiben auch das große Verantwortungsbewusstsein von Seiten des Orchesters. „Es gibt in der Komposition zu „Spiriti“ zwei neue Instrumente, ein Nicophone und eine Polystyrol-Platte, da waren dann die Perkussionisten gefragt", erzählt Scartazzini. „Sie mussten in den Baumarkt gehen und sich so eine Plastikplatte kaufen, da ist man dann auch wirklich mal auf Goodwill angewiesen, dass die das auch machen.“ – „Die sieht auch wirklich aus wie eine Duschwand.“ Simon Gaudenz lacht. Alle wissen, kommunizieren lohnt sich. „Es ist eine Riesenchance, dass uns ein Komponist zehn Stücke auf den Leib schreibt.“

Mahler-Scartazzini-Zyklus III. Die Veranstaltung ist ausverkauft. Kurz bevor es losgeht, sitzen alle Musizierenden auf ihren Plätzen, lebhaft tauschen sie sich aus. Die Jenaer Philharmonie ist ein sehr junges Orchester, die Stimmung ist gut. In dem überschaubaren Raum des Volkshauses wirkt der Klangkörper riesig, man fragt sich, wer mehr ist, Publikum oder Orchester. Gaudenz tritt auf, nimmt ein Mikrofon in die Hand, mit viel Herzlichkeit begrüßt er das Publikum. Er erklärt etwas zur folgenden Uraufführung, spricht von Scartazzinis Geisterwelt. Dann hebt er den Taktstock. „Torso“ beginnt mit Trompetenklängen aus der Ferne, langsam überträgt sich deren Energie ins Orchester, es ist ein An- und Abschwellen, wie riesige Wassermassen, die sich bewegen. Nach und nach füllt sich der Raum mit immer mehr Klang, so weit, bis er fast droht überzuschwappen. Der Übergang von „Torso“ zu „Epitaph“ ist fließend, kaum merklich endet das erste, beginnt das zweite Stück. Dann erfüllt das Cellosolo von „Epitaph“ den ganzen Raum. „Epitaph“ bezieht sich wortwörtlich auf einen Grabstein. Die Musik soll laut Scartazzini isoliert stehen, wie die Grabinschrift – seine moderne Auseinandersetzung mit dem Tod. Stille. „Spiriti“ beginnt mit einem tiefen Grummeln, geheimnisvollem Flattern. Die Klänge der Perkussionisten scheinen durch den Raum zu gleiten, sie zischen vorbei, huschen um die Zuschauenden und kehren ins Orchester zurück. Es schnattert und gluckert. Das vielgestaltige Treiben der Geister ist kaum greifbar, trotzdem spürt man sie überall. Dann beginnen die Orchestermusiker, auf die Holzkörper ihrer Instrumente zu trommeln, der Klang wird immer größer, breitet sich immer weiter aus – und plötzlich, auf diesem Klangteppich, spielen die Hörner den Einsatz von Mahlers dritter Sinfonie.

Trotz des musikalischen Stilwechsels fällt kaum auf, dass es sich um zwei Stücke handelt, deren Entstehungszeit über einhundert Jahre auseinander liegt. Sie passen ineinander, als hätte Scartazzini das Hintergrundgeschehen zu dem aufgedeckt, was in Mahlers erstem Satz erklingt. Eine mystische Geisterwelt, versteckt in der Natur, bis – wie Mahler über den ersten Satz seiner Sinfonie schreibt – Pan erwacht. Und der Sommer einmarschiert. Jena spielt die Sinfonie in ihrer ganzen Pracht und mit viel Freude. Das Programm treibt das Volkshaus physisch und klanglich an seine Grenzen, vor allem als noch der Knabenchor, das Frauenensemble und die Mezzosopranistin 262 Ida Aldrian hinzutreten. Trotzdem zweifelt man nicht an der Legitimität dieses Verbunds, des kleinen Raums mit dem großen Klang. Nicht immer verläuft alles reibungslos, auch die Musizierenden und die Laienchöre kostet das Programm viel Kraft, doch das fällt kaum ins Gewicht. Noch während der letzte Ton erklingt, ruft schon jemand lauthals ‚Bravo‘ aus dem Publikum, es folgt tosender Applaus.

  1. Die vier Stimmgruppen bezeichnen heutzutage in erster Linie die Stimmlage, in der ein Mensch singt: Sopran ist die hohe Frauen- und häufig Melodiestimme, die Frauen im Alt sind nicht älter, sondern singen die tiefere Frauenstimme. Gleichermaßen ist der Tenor die hohe und der Bass die tiefe Männerstimme.

Nachhaltiges Hören

Inwiefern kann sich das Orchester Jena durch das Projekt gegenüber anderen Orchestern profilieren? „Unser Projekt ist eine Möglichkeit, die heutige Stimme der Musik so zu erfahren, wie ich sie nie zuvor erfahren habe“, sagt Gaudenz. „Oft lässt man sich bei zeitgenössischer Musik auf etwas ein und hat danach aber keine Möglichkeit, es nochmal zu spielen. Daher die Idee, Stücke zu wiederholen.“ Er betont die Nachhaltigkeit dieses Konzepts. Ist das Projekt also auch aus vermittlerischer Perspektive zu sehen? „Auf jeden Fall, das ist mitunter das Wichtigste!“, sagt er. „Durch das wiederholte Hören bekommt das Publikum einen Bezug zu den Stücken. Den Unterschied zwischen dem Ende von Scartazzini und Mahler zu hören, die Hörerfahrungen zu erweitern, bringt noch eine extra Herausforderung und Begeisterung.“ In Zukunft sollen auch mehr Kinder und Jugendliche durch Projekte an Schulen einbezogen und Podiumsdiskussionen zu den Konzerten realisiert werden – ein besonderer Fokus auf den Standort Mitteldeutschland ist dem Team besonders wichtig.
Was steckt also in diesem Konzept? Ein neues Werk, maßgeblich geprägt vom Ensemble der Jenaer Philharmonie. All die Entwicklungsschritte, für die der Prozess genug Zeit zur Verfügung stellt, gute Kommunikation, Sympathien – beruhend auf Mahler. Und der Gedanke geht auf.

© Lucian Hunziker


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