Von Anna Vogt, 12.08.2016

Gastgeber für die Welt

1500 junge Musiker aus etwa 40 Nationen werden dieses Jahr zu „Young Euro Classic“ erwartet. Und 28.000 Zuschauer. Ein Organisationsalptraum? Nein, sagt Organisatorin Gabriele Minz. Aber ein Fall für gute Nerven.

niusic: Berlin im Sommerloch. Viele sind im Urlaub, der Rest im Biergarten und an den Seen. Ist das wirklich eine gute Zeit für ein Klassik-Festival?

Gabriele Minz: Man kann so ein Thema wie Jugendorchester nur im Sommer machen, weil diese Orchester nur in den Semesterferien touren können. Außerdem ist das kulturelle Angebot in Berlin so groß, dass man ein Festival zeitlich so platzieren muss, dass es eine gewisse Aufmerksamkeit bekommt. Und schließlich ist Berlin gerade im Sommer eine sehr schöne Stadt, mit ihrem südländischen Flair.

Europateppich, Sonnenblumen, Orchesterpaten und eine Hymne: Ein Festival braucht Markenzeichen.

niusic: „Young Euro Classic“ wurde letztes Jahr als „Europäische Kulturmarke“ ausgezeichnet. Wie wird so ein Festival zu einer Marke?

Minz: Es muss Rituale geben, mit denen man ein Festival verbindet, denn es muss eben mehr sein als eine Konzertreihe. Zur unserer Marke gehört der blaue Teppich mit gelben Sternen, der Europa-Teppich, mit dem wir die große Freitreppe belegen. Wir wollen damit zeigen, dass jeder wichtig und willkommen ist. Zu den Ritualen gehören auch die Sonnenblumen, die traditionell auf der Bühne überreicht werden. Und die Hymne, die jedes Orchester zu Beginn des Konzerts spielt. Dieses Jahr wird wieder die von Iván Fischer gespielt. Er hat sie „Young Euro Classic“ geschenkt, und sie wird von den Orchestern sehr unterschiedlich realisiert. Und es gibt die Orchesterpaten …

niusic: Haben die Paten noch eine andere Aufgabe, als das jeweilige Orchester vor dem Konzert mal mehr, mal weniger gelungen anzukündigen?

Minz: Wir verstehen die Paten als Fürsprecher nicht nur für die Orchester, sondern auch für das ganze Festival. Durch die Paten wollten wir einen Querschnitt aus der gesamten Gesellschaft an das Festival binden. Es lebt ja dadurch, dass es viele Fürsprecher, Fans und Freunde hat. Wenn die Paten sich die Zeit nehmen können, gehen sie auch hinter die Bühne, sprechen mit dem Orchester und erzählen dann eben aus ihrer eigenen Perspektive etwas zu dem Orchester oder zum Land, aus dem das Orchester kommt.

Festivalleiterin Dr. Gabriele Minz

Eine Auslastung von fast 100 Prozent, strahlende Gesichter auf der Bühne, Begeisterung im Publikum: Das Festival „Young Euro Classic“ ist ein Erfolgsmodell, das einem die Sorgen nimmt, man könne mit klassischer Orchestermusik (und vor allem auch zeitgenössischer!) kein junges Publikum mehr erreichen. Das internationale Gipfeltreffen der Jugendorchester wurde im Milleniumsjahr 2000 von Dr. Gabriele Minz und Dr. Willi Steul initiiert. Seitdem leitet Gabriele Minz das Festival organisatorisch. Dass sie ausgebildete Volkwirtin und Psychologin ist, hört man im Interview immer wieder durch: Sie hat das Festival als „Marke“ geprägt und den schwierigen Spagat zwischen geringen finanziellen Mitteln und hohem künstlerischem Anspruch perfektioniert Im Interview mit niusic-Autorin Anna Vogt strahlt sie auch im 16. Jahrgang des Festivals noch eine ungebrochene Euphorie aus – und eine Gelassenheit, die auf dem Wissen beruht, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Denn das Motto von Team Minz lautet nicht grundlos: „Wir fragen uns immer: Wie geht es, nicht andersherum. Lösungen machen glücklich, nicht die Probleme.“

niusic: Ist das Festival eher was für Klassik-Kenner oder für Einsteiger?

Minz: Ich bin zum Start des Festivals im Jahr 2000 bei manchen Veranstaltern, auch bei den Berliner Festspielen beispielsweise, auf die Auffassung gestoßen: Wir bieten ein exorbitantes Programm, und wenn das Publikum nicht kommt, ist es selbst schuld. Eine sehr elitäre Meinung, die mich geschockt hat. Wir fühlen uns hier als Gastgeber und wollen einfach Leute erreichen, die klassische Konzerte interessieren könnten. Daher haben wir uns auch in den Vermarktungsstrategien schnell davon verabschiedet, große Anzeigenkampagnen zu machen, dafür hatten wir auch gar nicht das Geld. Wir haben stattdessen zum Beispiel bei großen Ausstellungen oder vor dem Reichstag junge Leute auf Rollerblades gezielt unsere Flyer verteilen lassen. Eben an Orten, die Kulturinteressierte anziehen.

niusic: Und die kommen auch zu den vielen Ur- und Erstaufführungen, die ein traditioneller Teil des Festivals sind?

Minz: Viele Orchester, gerade die von weit her, wollen sich hier gern mit traditionellem europäischem Repertoire profilieren. Wir kämpfen mit ihnen da manchmal geradezu, dass die doch etwas Zeitgenössisches von zuhause mitbringen – auch als Kulturbotschafter für ihre Länder. Das gibt dem Festival programmatisch eine besondere Farbe. Das Orchester aus Kasachstan zum Beispiel spielt in diesem Jahr drei Uraufführungen von jungen kasachischen Komponisten. In irgendeinem „normalen“ Konzert würde man da nie 1500 Zuschauer rein bekommen, aber im Rahmen des Festivals ist das möglich. Der gemeinsame Nenner ist dabei immer die große europäische Musiktradition, aber die wird über die Werke nationaler Komponisten oder eben Neukompositionen sehr unterschiedlich wahrgenommen und gespiegelt.

niusic: Ein Gastspiel in Berlin ist für viele der Orchester sicherlich keine Routine ...

Minz: Nein, die Orchester sind es meist nicht gewohnt, in einem solchen Raum wie dem Konzerthaus zu spielen. Die freuen sich einfach sehr und sind überwältigt, wenn sie dann in Konzertkleidung auf die Bühne kommen und sehen: Der Laden ist bis unters Dach voll. Und dadurch entsteht in den Konzerten von Anfang an eine ungeheure Elektrizität. Die Orchester wollen das Beste geben und wachsen über sich hinaus. Und wenn der Applaus dann aufbraust, merkt man bei den Orchestermusikern oft Staunen, Glück und Ungläubigkeit, dass sie so gefeiert werden. Nach vollbrachter Tat muss sich diese Verausgabung natürlich auch Raum schaffen bei den Orchestern, dann tanzen und feiern sie oft auch auf der Bühne, das ist je nach Land und Temperament völlig verschieden.

niusic: Gibt es manchmal böse Überraschungen, was das Niveau betrifft?

Minz: Wir hatten schon ein oder zwei Orchester, von denen wir ein ordentliches Niveau erwarteten, die uns dann aber enttäuscht haben. Wir achten aber in der Vorauswahl eigentlich sehr darauf, dass die Orchester eine gewisses Qualität mitbringen. Ausnahmen sind besondere Phänomene, wenn wir etwa das Arab Philharmonic Youth Orchestra oder ein Orchester aus dem Oman präsentieren oder wie letztes Jahr aus Guangzhou, wo sich zum ersten Mal überhaupt in China ein Jugendorchester auf gutem Niveau gegründet hatte. In solchen Fällen geht es dann auch um die Initiativen, die wir vorstellen wollen und nicht nur um die künstlerische Qualität.

niusic: Können sich alle Orchester die Reise nach Berlin leisten?

Minz: Die Reisekosten sind im Prinzip vom Orchester selbst aufzubringen, die bemühen sich auch selbst um Sponsoren in ihrem Land. Die dortigen Stiftungen und staatlichen Institutionen wollen ja auch ihre jungen Leute mal über den nationalen Tellerrand schauen lassen. Wenn es gar nicht geht, wie bei Kolumbien oder Bolivien, dann fragen wir hier beim Goethe-Institut oder beim Auswärtigen Amt an. Da gehört sehr viel Engagement auf allen Seiten dazu. Das mexikanische Orchester beispielsweise hat sich mit einer Tournee durch Mexiko das Geld für die Reise zu „Young Euro Classic“ verdient.

niusic: Es gibt bei „Young Euro Classic“ immer wieder länderübergreifende Projektorchester. Vermitteln diese auch eine politische Botschaft?

Minz: Wir wollen das Festival nicht politisieren, die Musik schon gar nicht. Aber wir nutzen die Möglichkeit, im Rahmen der Kultur, also im vorpolitischen Raum, auch Länder zusammen zu bringen, deren Verhältnis unter Spannung steht. Das Friedensorchester im letzten Jahr war zum Beispiel ein großes Herzensprojekt von uns, in dem Russen, Ukrainer, Armenier und Deutsche zusammengespielt haben. Dieses Konzert war ein Erlebnis, das man einfach nicht vergisst.

niusic: Funktioniert denn Völkerverständigung über Musik immer reibungslos?

Minz: Am Anfang sind natürlich die Ländergruppen oft stark voneinander getrennt und bleiben etwas untereinander. Aber durch den Arbeitsprozess im Orchester wird das ein wenig aufgelöst, die Musiker kommen miteinander ins Gespräch, feiern einen gemeinsamen Erfolg. Sie müssen kooperieren, müssen sich zusammenfinden, sonst schafft man keinen gemeinsamen Orchesterklang. Das gilt im übertragenen Sinn für alle Konfliktparteien. Das ist aber gar nicht so einfach, es funktioniert nicht automatisch, wenn man Leute so zusammensteckt. Da müssen die Dozenten und vor allem der Dirigent stimmen, der sich wirklich hingebungsvoll dieser Orchesterwerdung widmen und auch eine Wahrnehmung dafür haben muss, dass es ganz unterschiedliche Musikauffassungen gibt.

niusic: Hätten Sie ein Beispiel für solche unterschiedlichen Auffassungen?

Minz: Nehmen wird mal russische und deutsche Musiker: Die russischen Musiker sind wahnsinnig diszipliniert und arbeiten wirklich sehr auf den Punkt, die deutschen diskutieren viel. Wie kommt das zusammen? Als wir mal ein russisch-deutsches Projekt machten, sagten die Russen nach einem Tag: Die Deutschen können nichts, wir reisen wieder ab. Wir konnten gerade noch verhindern, dass sie sich total verweigerten. Die Lösung des Problems kam schließlich dadurch, dass eine Uraufführung auf dem Programm stand, für die sich keine der beiden Seiten auf etwas Bekanntes beziehen konnte. Es konnte also niemand sagen: Das muss so und nicht anders. Dann kam noch die Komponistin dazu und hat mit allen erarbeitet, was sie sich vorstellte. Als sich das Orchester dann so zusammenfand, war auch ein Zusammenspiel bei den anderen, traditionellen Werken möglich. So etwas weiß man hinterher beim Konzert natürlich nicht, aber solche Prozesse sind im Vorfeld wahnsinnig wichtig. Solche Projekte können grandios werden, aber eben auch scheitern.

„Man erreicht das Gemeinsame durch die Einordnung in ein Kollektiv, nicht durch die Unterordnung."

Gabriele Minz

niusic: Was kann man denn, im besten Fall, in so einem Projektorchester lernen? Demokratie ja wohl nicht unbedingt, schließlich ist ein Orchester ein ziemlich hierarchisch organisiertes Gebilde …

Minz: Natürlich muss unterm Strich einer, nämlich der Dirigent, das Sagen haben, weil nicht jeder seine eigene Interpretation spielen kann, das funktioniert von der Sache her einfach nicht. Aber um ein gemeinsames Konzert auf die Bühne zu bringen, muss jeder sich einfinden lernen in eine Interpretation. So ist es aber auch in vielen anderen gesellschaftlichen Verhältnissen: Man erreicht das Gemeinsame durch die Einordnung in ein Kollektiv, nicht durch die Unterordnung. Was Erdoğan zum Beispiel derzeit macht, ist das blanke Unterordnen von oben herab, da hat der einzelne gar keine Möglichkeiten und Freiräume mehr. Im Orchester hingegen lerne ich etwas dazu, auch über meinen eigenen Stil, meine Vorlieben.

niusic: Was wäre Ihr zukünftiges Herzensprojekt für das Festival, wenn Sie keine Budget-Sorgen hätten?

Minz: Das ist sehr einfach: Dann würden wir in jedem Fall das Friedensorchester-Projekt institutionalisieren. Denn zu „Young Euro Classic“ passt eine solche Akademie-Phase, die eben auch reflektiert, was in der Gesellschaft gerade passiert. Dann würden wir Jahr für Jahr verschiedene Musiker aus mehreren, zum Teil krisenbehafteten Ländern im Rahmen des Festivals zusammenbringen. An Ideen fehlt es nicht – es fehlt immer nur am schnöden Geld.

„Young Euro Classic“ 2016

Vom 17. August bis 3. September werden 19 herausragende Jugendorchester im Berliner Konzerthaus erwartet: vom European Union Youth Orchestra über das Schleswig-Holstein Festival Orchester und das Bundesjugendorchester bis zum Mahler Jugendorchester. Außerdem Klangkörper aus u.a. Kasachstan, Rumänien, den Niederlanden, Bulgarien und Mexiko. In Nils Landgrens „Klassik Meets Jazz“ werden zudem auch wieder die Grenzen zu anderen Musikgenres niedergerissen, und in einem Kompositionswettbewerb gehen zeitgenössische Werke ins Rennen um den Europäischen Komponistenpreis, der von einer Laien-Jury verliehen wird.
Alle Informationen, Konzertprogramme und Tickets gibt es auf www.young-euro-classic.de .

© Peter Adamik
© Kai Bienert


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