Von Christopher Warmuth, 22.08.2017

Emojis für Hochbegabte

Davon träumen fast alle Profimusiker zu Beginn ihrer Karriere: ein hochprofessionelles Orchester für Jugendliche, das durch die Welt tourt. Denn darin kann man auch lernen, dass man als Musiker kein Einzelkämpfer ist.

Leichter könnte es eine Marketingabteilung bei der Vermittlung von klassischer Musik nicht haben. Das Ensemble „LGT Young Soloists“ kann sogar gegen Katzenvideos gewinnen, denn nach Vierbeinerclips sind Kindervideos der absolute Renner im Netz. Über zwanzig Solisten im Alter zwischen 12 und 23 spielen bei diesem Ensemble gemeinsam in den größten Konzerthäusern der Welt. Einen Kinderbonus hat dieses Orchester nicht nötig, es spielt auf einem extrem professionellen Niveau. „LGT Young Soloists“ nehmen nur musikalische Ausnahmetalente auf und potenzieren damit noch den Effekt, den Wunderkinder bereits solistisch auf ein Publikum ausüben: pure Faszination. Dabei ist eigentlich noch faszinierender, was hinter dem Projekt steckt.

Marina Seltenreich und Alexander Gilman sind die Eltern des Orchesters. Zugleich aber auch Lehrer, beste Freunde, Mitglieder, Jugendberater und Problemmanager des Ensembles. Eigentlich sollte das Projekt „LGT Young Soloists“ nur einmalig stattfinden, doch sowohl der Nachhall des Publikums, als auch die Begeisterung aus den Solistenreihen sorgten dafür, dass das Ensemble jetzt dauerhaft besteht. Weil es eine Win-Win-Situation für beide Seiten ist. Alexander (Violine) hat selbst mit Dirigenten wie Neeme Järvi, David Zinman und Bernard Haitink zusammengearbeitet, und auch Marina (Klavier) war bereits auf internationalen Bühnen in Südafrika, USA, Neuseeland, Australien, Hongkong und Singapur unterwegs. Parallel zu ihren Konzerten geben die beiden gemeinsam Meisterklassen an deutschen Hochschulen.

niusic: Euer Orchester klingt nach der perfekten Zirkusnummer. Man nehme gut zwanzig Kinderstars und lasse sie zusammen auftreten ...

Alexander Gilman: (lacht) Für eine Zirkusnummer spielen wir zu gehaltvolle Musik.

niusic: Ich hatte ein reflexhaftes Unbehagen, als ich von euch gelesen habe. Nach euren Konzerten wird doch sicherlich mehr über die Wunderkinder gesprochen als über die Musik?

Marina Seltenreich: Bei uns spricht hinter der Bühne niemand von Wunderkindern. Wir sprechen über die Musik. Wir alle machen das für die jungen Musikerinnen und Musiker, nicht für das Publikum. Uns geht es hier nicht nur um die Musik, sondern auch um die Gespräche. Häufig gibt es in der klassischen Musik das Problem, dass verkrampft versucht wird, noch besser zu spielen, noch konkreter. Und dann ist es tot und langweilig.

niusic: Bei dem Spielniveau, das ihr an den Tag legt, müsst ihr aber den Drang zur Perfektion haben – im besten Sinne. Ich hätte nicht gedacht, dass euer Durchschnittsalter unter zwanzig ist.

Seltenreich: Klar ist Disziplin wichtig. Aber wirklich nochmal: Es geht uns eher darum, dass wir Musikerinnen und Musikern die Chance geben wollen, so frühzeitig wie möglich aus ihrem Stereotyp „Solist“ rauszukommen. Wenn sie bei uns anfangen, dann haben wir vor allem eine soziale Verantwortung. Als ich so alt war, war ich der absolute Sonderling, und wir wissen, wie verurteilend Kinder sein können. Ich habe mich eigentlich nie richtig gefühlt, habe fast nur in meinem Zimmer gesessen und geübt. Kein erfolgreicher Musiker hatte eine „normale“ Kindheit.
Gilman: Und das muss nicht sein. Wir haben einen Ort geschaffen, an dem viele Hochbegabte zusammenkommen.

niusic: Ein Orchester aus Sonderlingen?

Seltenreich: (lacht) Ja. Das sind wir doch alle. Und besondere Menschen sind mir immer am liebsten ...
Gilman: Natürlich haben die als allererstes das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein. Ich hätte mir das damals wirklich gewünscht.



niusic: Habt ihr nicht irrsinnige Probleme mit Vorschriften? Ich meine, wenn ihr durch die Welt tourt ohne die Eltern?

Gilman: Marina wird irgendwann ein Tagebuch darüber schreiben.
Seltenreich: Oh ja! Das ist absurd, mit welchen Bürokratiehürden wir da zu tun haben. Für unsere Solisten bedeutet das vor allem: Disziplin. Wir haben eine Sperrstunde für jede Altersklasse. Ab dann müssen sie im Hotel bleiben. Aber unsere Solisten wissen genau, dass es ganz klare Regeln gibt, an die sie sich halten müssen. Sonst würden sie auch sofort raus fliegen. Anders geht das nicht. Und wir haben diesbezüglich auch wenig Probleme.

niusic: Warum eigentlich der Name „Soloists“?

Seltenreich: Als hochbegabtes Kind ist man immer Solist. Die üben ja alle von Beginn an alleine und werden auch so unterrichtet.

niusic: Aber braucht die Zukunft so viele Solisten?

Gilman: Vermutlich werden nicht alle Solisten. Aber das muss nicht das Ziel sein. In einem Streichquartett zu spielen, kann auch ein Berufswunsch sein. Und das ist nicht weniger wert.



niusic: Warum wollen eure jungen Musiker nicht Ensemblemusiker werden?

Seltenreich: Das ist kein Spezifikum unserer Solisten. Beinahe alle Musikerkinder werden auf ihre solistische Karriere getrimmt. Ich glaube, weil sie es nicht kennen. Wir haben schon Solisten bei uns, die zum Beispiel sagen, dass sie Primarius von einem Streichquartett werden wollen. Aber das ist tatsächlich die absolute Ausnahme. Und das liegt wirklich an der musikalischen Erziehung. Am Anfang, wenn man das Instrument noch nicht beherrscht, macht Kammermusik auch wenig Sinn. Aber selbst an den deutschen Hochschulen kommen die Studenten ja erst nach ein paar Semestern damit in Berührung. Und das ist das eigentlich Absurde. Man wird da einfach nicht auf den Beruf vorbereitet.
Gilman: Und vor allem sind es verschenkte Optionen. Mit anderen zusammenzuspielen kann so viel mehr Freude machen, als alleine zu spielen. Und ich finde, dass man damit nicht früh genug in Berührung gebracht werden kann.

niusic: Das denken sicherlich mehrere Menschen. Warum passiert es dann so selten?

Seltenreich: Wenn du an einer künstlerischen Hochschule einen Studienplatz willst, wird das nicht geprüft. Und von zweihundert Bewerbern werden drei genommen. Also auf was bereitest du dich vor? Natürlich auf das solistische Vorspiel. Das ist ein Systemfehler.

niusic: Und warum spielen die Musiker dann bei euch mit? Wäre ja demnach Zeitverschwendung ...

Gilman: Ich mache mir keine Sorgen, dass bei uns jemand mit der Aufnahmeprüfung wirklich Probleme hat. Wir coachen das auch ganz gezielt. Auf was kommt es an? Wie verhalte ich mich? Wie trete ich auf? Und das solistische Spiel kommt nicht zu kurz, weil wir auch Solokonzerte spielen. Aber: gemeinsam. Unser Kontrabassist ist mit uns häufiger solistisch aufgetreten, und der wurde jetzt direkt ins Finale für die Stelle im Gewandhausorchester Leipzig eingeladen.

niusic: Also ist es schon eher ein Karrierekader?

Seltenreich: Wenn wir dir den Verlauf unserer WhatsApp-Gruppe zeigen würden, würdest du das nicht mehr fragen. Das ist ein Freundeskreis!
Gilman: Häufig wird ja unterstellt, dass die alle in Konkurrenz zueinander stehen. Wenn so Konkurrenz aussieht, bräuchten wir auf der Welt mehr davon. Der Emoji-Anteil ist maximal hoch. Das soziale Moment ist da sehr groß. Natürlich werden da auch Bilder von Konzerten gepostet, aber nicht, weil man angeben will. Die haben alle Anteil am anderen, weil sie sehr eng befreundet sind.

niusic: „LGT Young Soloists“ – ein Sozialprojekt?

Seltenreich: „LGT Young Soloists“ – ein soziales Projekt.
Gilman: „LGT Young Soloists“ – ein soziales Projekt, das durch die Liebe zur Musik entstanden ist.


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LGT Young Soloists

RCA/Sony


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