Von Jesper Klein, 10.10.2019

Eislers Erbe

Der junge schottische Komponist Gregor Forbes schreibt in der Leipziger Geburtswohnung von Hanns Eisler an einer Uraufführung. Ein Gespräch über politische Musik, Relevanz und das Geldverdienen.

In Hanns Eislers Wohnung ist alles sehr aufgeräumt. Aufgeräumt nicht unbedingt im Sinne von ordentlich, aufgeräumt im Sinne von überschaubar. Die ehemalige Geburtswohnung wird nur noch von einer sehr feinen Komponistenaura umweht, in erster Linie ist sie: eine Wohnung. Seit April wohnt hier der schottische Komponist Gregor Forbes, Jahrgang 1993. Er ist der erste Stipendiat des Eisler-Hauses Leipzig, wohnt inmitten eines wirklich unschönen Viertels unweit vom Hauptbahnhof. Dort komponiert er ein Stück für die Reihe „Musica nova“ im Leipziger Gewandhaus. Wir treffen uns ein paar Monate vor der Uraufführung.

niusic: Du lebst jetzt seit April hier in Leipzig in der Wohnung von Hanns Eisler. Hat der Ort irgendeinen Einfluss auf Dich als Komponist?
Gregor Forbes: Es ist ein besonderer Ort. Ich denke oft an Eisler, an seine Einstellung, seine Persönlichkeit, höre natürlich seine Musik. Und ich denke darüber nach, welche Komponisten von heute man mit Eisler vergleichen könnte. Das Besondere an seinem Werk ist ja, dass es politisch so aufgeladen ist. Komponisten und Musiker neigen dazu, sich in politischer Hinsicht eher zurückzuhalten.

niusic: Welche Rolle spielt Deiner Meinung nach die Politik für die Musik im Allgemeinen?
Forbes: Viele Komponisten interessieren sich für Politik, betrachten ihre Kunst aber losgelöst davon. Oder sie lassen die politischen Geschehnisse gleich ganz außen vor. Musik war schon immer mit Politik verbunden. Wenn Eisler heute noch leben würde, würde er die Leute sicher mehr wachrütteln wollen. Aber wenn Du Dein Werk nur zum politischen Zweck gebrauchst, kann das auch einschränken. Ich kann also schon verstehen, wenn manche Komponisten im Hinblick auf das, was politische Musik bewirken kann, nicht besonders optimistisch sind.

Das Eisler-Haus 2009 (vor der Sanierung)

niusic: Was kann politische zeitgenössische Musik im 21. Jahrhundert denn bewirken?
Forbes: Musik hat die Kraft, Menschen zusammenzubringen und Gruppen zusammenzuhalten. Auf gefährliche Art und Weise, aber auch so, dass neue Denkräume erschlossen werden. Musik hat da ein großes Potential. Es braucht einfach mehr Musiker und Komponisten, die darüber nachdenken.

niusic: Gehört es dazu, sich in den sozialen Medien politisch zu äußern?
Forbes: Ich denke schon. Aber auch bei Twitter gibt es viele, die sagen: Musik und Politik haben nichts miteinander zu tun. Am Ende geht es doch um Klänge und Geräusche, die an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Situation erzeugt werden und in denen Geschichte resoniert. Es gibt Bewusstes und Unterbewusstes, Musiker und Komponisten können mit diesen Ebenen spielen.

niusic: Gibt es eine Verbindung zwischen Dir und Eisler?
Forbes: Das Werk, das ich hier schreibe, hat rein musikalisch nichts mit Eislers Musik zu tun, es ist vielmehr von seinen Vorstellungen inspiriert. Vor kurzem bin ich auf einen interessanten Brecht-Text gestoßen, den Eisler vertont hat. Vielleicht wäre es interessant, den nochmal neu in Musik zu setzen. Aber ehrlich gesagt arbeite ich kaum mit Texten.

niusic: Das ist interessant. Wir reden über politische Musik, und Du sagst, Du arbeitest nicht gerne mit Texten. Ist es nicht gerade der Text, in dem häufig eine politische Botschaft steckt?
Forbes: Für mich ist Musik ohne Texte nicht unpolitisch. Manchmal trägt der Text den politischen Inhalt, und die Musik verbreitet ihn. Das ist der einfachste Weg. Aber Musik enthält Spannungen, Geschichte, Kontext, Beziehungen. Da steckt viel Politisches drin.

niusic: Warum arbeitest Du nicht mit Texten?
Forbes: Vor ein paar Jahren hatte ich eine Phase, in der es wichtig für mich war. Da habe ich mich für englischsprachige Gedichte interessiert, aus den 1910er-, 1920er-Jahren. Sie standen in Verbindung mit den Klangwelten, die ich erschaffen wollte. Aber das waren Stützräder für mich, weil ich mir dieser Zeit noch nicht so sicher war. Jetzt weiß ich, dass Texte immer gewisse Faktoren wie Prosodie mit sich bringen – und das ist nicht, wonach ich suche.

niusic: In Deinen Stücken experimentierst Du mit reiner Stimmung. Warum?
Forbes: Die gleichschwebende Stimmung klingt manchmal fürchterlich. Für mich ist sie immer mehr farblos und uninteressant geworden. Ich mag zwar Harmonien, aber mit ihr ist es einfach schwierig, etwas Frisches zu finden. Die reine Stimmung eröffnet mir neue Zugänge. Man muss aufpassen, weil einige Musiker mit ihr nicht so vertraut sind. Für die Stücke, die ich hier schreibe, bin ich aber optimistisch.

niusic: Die Musiker müssen beim Spielen Deiner Stücke Entscheidungen treffen. Kannst Du das erklären?
Forbes: Wenn die Ausführenden beim Spielen Entscheidungen treffen müssen, macht das die Aufführungssituation lebendiger. Man wird wachsamer. Es gibt Forschung, die zeigt, dass das Gehirn stärker angeregt wird. Sowohl bei den Musikern als auch beim Publikum.

niusic: Wie muss man sich diese Entscheidungen konkret vorstellen?
Forbes: In der Regel geht es um Dynamik 42 , es gibt zum Beispiel eine lautere und eine leisere Variante. Die Musiker wählen das Material, bilden Gruppen, verbinden sich. Man wird in Situationen geworfen, die sich ständig verändern. Das musikalische Material ist nicht allzu schwierig, sodass die Ausführenden aufeinander hören und reagieren können. An sich ist das nicht neu. Bei Boulez oder Stockhausen kommt es oft nur gar nicht darauf an, in welcher Reihenfolge man die Elemente schlussendlich spielt 12 . Das reicht mir nicht. Ich möchte, dass wahrgenommen wird, wenn eine Entscheidung getroffen wird.

niusic: Hast Du Vorbilder oder Komponisten, denen Du besonderes nahe stehst?
Forbes: John Cage auf jeden Fall. Wegen seines Einfallsreichtums. Und den Herausforderungen, vor die er das musikalische Establishment gestellt hat und von denen viele genervt waren.

niusic: Möchtest Du Deine Zuhörer manchmal nerven mit Deiner Musik?
Forbes: Nein. Es ist aber gut, sie ein bisschen herauszufordern. Ich finde es etwas altmodisch, wenn Avantgarde-Komponisten einfach nur auf Empörung abzielen. Für mich geht es darum, reizvolle ästhetische Erlebnisse zu kreieren, die manchmal herausfordern, an sich aber offen und einladend sind.

  1. Chaos regiert! Solch verrückte Zufallskompositionen entstanden im 20. Jahrhundert. Das Offenlassen der Form und der Zufall haben freilich nicht nur mit unkontrollierter Willkür zu tun. So kann ein Interpret selbst die Reihenfolge der komponierten Noten bestimmen oder aber entscheiden, wie lange die Noten gehalten werden. (CW)

  2. In dieser Schublade schlummert sehr viel: Die Lehre der Dynamik hat alles unter ihrer Kontrolle, was mit Lautstärke zu tun hat. Egal ob fließende Veränderungen, einheitliche Stufen oder abrupte Veränderungen der Lautstärke. Ein bisschen Italienisch schadet da nie, jedenfalls bei alter Musik. Viva il volume! (CW)



niusic: Muss man Deine Musik im Programmheft erklären?
Forbes: Ich bin total gegen Programmhefte. Ich möchte meine Musik nicht erklären, das Erlebnis soll möglichst unmittelbar sein. Es gibt da kein Vorwissen, das man mitbringen muss, oder Referenzen, die man mitbekommen muss.

„Wir brauchen so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl unter den Komponisten.“

Gregor Forbes

niusic: Wie sind denn die Perspektiven für einen jungen Komponisten wie Dich? Mit zeitgenössischer Musik Geld zu verdienen, das ist ja sicher nicht leicht …
Forbes: Theoretisch sieht es nicht wirklich gut aus. Nur durch das Komponieren mein Geld zu verdienen, das wäre schwierig. Aber ich organisiere gerne, ich spiele gerne, ich unterrichte auch gerne. Meine Theorie ist ja: An einem bestimmten Punkt in der Geschichte haben die Komponisten gemerkt, dass sie nur durch das Komponieren kein Geld verdienen. Dann haben sie begonnen zu unterrichten und brauchten Schüler. So gibt es natürlich noch mehr Komponisten. Wir brauchen so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl unter den Komponisten. Aber Komponisten sind gerne etwas introvertierter und betrachten ihr Werk als privates Wissen.

niusic: Also ist es ein harter Wettbewerb?
Forbes: Man wird in dieses System gedrückt. Komponisten bewerben sich andauernd für Stipendien und Residenzen wie diese hier. In den USA haben sie für ein Streichquartett-Projekt zwei Komponisten gesucht, es gab rund 450 Bewerbungen. Gerade habe ich mich für ein 200-Dollar-Stipendium in den USA beworben, da gab es 250 Bewerbungen. Das ist absurd. Man rutscht in dieses Wettbewerbsdenken und fängt dann an, sein Werk zu beschützen. Einmal habe ich einen Kollegen nach den Schriften gefragt, die er verwendet. Wollte er nicht sagen. Das ist der Punkt. Die Komponisten müssen einfach merken, dass das ein schreckliches System ist und anfangen, zusammenzuarbeiten.

niusic: Gibt es so etwas wie eine Blase der zeitgenössischen Musik? Und darauf aufbauend: Wie wird zeitgenössische Musik für Dich relevant?
Forbes: Es gibt eine Blase, aber zum Glück sind die Grenzen dehnbar. In der Mitte befinden sich die etablierten Institutionen und Festivals. Nach draußen gibt es glaube ich keine besonders große Relevanz. Das kann man vielleicht aber genauso über Erkenntnisse aus der Mathematik sagen. Ihre Relevanz kann zunächst begrenzt sein, und dann dringt auf einmal etwas nach außen. Genau das ist wichtig, dass die Ideen auch ab und an nach draußen gelangen. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie ein Mittel für mehr Relevanz gibt.

niusic: Soll Deine Musik relevant sein?
Forbes: Die Relevanz ist in meinem Kopf als ein Ideal, das man nie wirklich erreicht. In Glasgow habe ich Konzerte an ungewöhnlichen Orten organisiert, in Cafés zum Beispiels. Dort konnten Menschen, die weniger mit zeitgenössischer Musik am Hut haben, ihr ohne großes Risiko begegnen. Das hat mit Relevanz zu tun.

© Hero: Eisler-Haus Leipzig e. V.
© Kachel/Außenaufnahme: Lumu/Wikimedia Commons/(CC BY-SA 3.0)
© Innenaufnahmen: Jesper Klein


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