Von Hannah Schmidt, 26.06.2018

Chaos im Bunker

Wie kann Klassik als zeitgenössische Kunstform funktionieren – also nicht nur in der schönen Theorie, sondern tatsächlich? Das Ensemble Resonanz ist der Lösung ziemlich nah. Ein Bericht vom ersten „resonanzraum festival“.

Es mag vielleicht zwei Monate her sein, da sagte Tobias Rempe, Geschäftsführer des Ensemble Resonanz, in einem Vorgespräch diesen bezeichnenden Satz: „Was wir in Hamburg sind, können wir nirgendwo sonst sein.“ Bezeichnend deshalb, weil das Ensemble Resonanz pro Jahr über 40 Auftritte außerhalb Hamburgs spielt. Es ist Ensemble in Residence in der Elbphilharmonie. Der Name ist international bekannt und etabliert. Hamburg also? Es war windig und kalt vor den Fenstern des gemütlichen Tiroler Restaurants, von dem aus wir auf den unter Hamburgern sogenannten „Bunker“ blickten, die Residenz des Ensembles: Ein dreckiggraues Betongebäude mitten auf St. Pauli, das Zwangsarbeiter zum Schutz vor Luftangriffen im Jahr 1942 in Rekordzeit hochboxten. Der „Flakturm IV“ ist einer der weltweit größten jemals gebauten Bunker. Nach dem Krieg wurden von hier aus die ersten Fernsehbilder gesendet. Heute gehört die erste Etage dem Ensemble Resonanz, das dort probt, diskutiert, Konzerte veranstaltet. Direkt vor der Tür endet die Buslinie, die das raue St. Pauli mit der Altstadt und den wohlhabenden Nordost-Alster-Stadtteilen verbindet.

Der „Bunker“ in St. Pauli

Gegenteiliger könnte da eine schillernde Elbphilharmonie kaum sein, gläsern schwebend auf ihrem Hafen-Thron, in der das Ensemble Resonanz ebenfalls regelmäßig zu Gast ist, und von der viele glauben, sie ausschließlich Hamburgs Klassik beherberge. Aber genau dieses Missverständnis macht die Musikszene der Hafenstadt zu einem Spannungsfeld, aus dem das Ensemble Resonanz optimal seine Energie ziehen kann. Die Musiker wollen klassische Musik als zeitgenössische Kunstform etablieren, und dafür reicht ihnen nicht, Zeitgenössisches einfach nur gut zu spielen oder Älteres neu zu interpretieren. Sie entwickelten moderierte Konzertformate wie „Urban String“ oder die Gesprächsreihe „Bunkersalon“, begannen die Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern anderer Genres und öffneten ihre Proben im Bunker-Koloss für Besucher.

Ihr Konzertsaal, ihr Labor, ihr Wohnzimmer

Jede Woche testen die Mitglieder hier ihre Grenzen aus, als Musiker, als Kollaborationspartner, bis hin zu den Grenzen des eigenen Arbeitsfeldes (Moderieren? Lehren? Netzwerken?). Und sie haben diesen Raum, den es so nur in Hamburg geben kann und den sie zum Konzertsaal gemacht haben, zu ihrem Labor, ihrem Wohnzimmer mitten im Kiez. Eigentlich – das mag man aus dem Titel des ersten „resonanzraum festivals“ herauslesen, das jetzt Ende Juni stattfand – hat das Ensemble Resonanz diese drei aufeinanderfolgenden Konzerttage der Idee dieses besonderen Raumes gewidmet, in dem alles zusammenkommt: Nobles Elbphilharmonie-Publikum und die Studenten vom Kiez, Konzertsaal und Proberaum, jahrhundertealtes Kulturgut und Clublicht. Filigrane Ästhetik trifft auf architektonische Wucht und gläserne Transparenz auf die dicksten Mauern zum Schutz vor Angriffen. Dazu kommt die hier einzigartige Mischung aus Zufluchtsort und historischem Sende-Zentrum.

Freitag, 22. Juni, 17.45 Uhr: Das wird ein langer Abend, das zumindest verspricht das vor Regenfeuchtigkeit wellig gewordene Plakat unten am Eingang des Resonanzraumes – „um Mitternacht wird noch getanzt“. Der zweite Festival-Tag bringt von allen wohl die stärkste Konzentration der „Resonanzraum“-Idee, so etwas wie der Peak der Herzschlag-Kurve. Er trägt das Motto „outernational night“, eine Nacht außerhalb aller Nationalität. Seine Dramaturgie entwickelte die Kulturmanagerin und stellvertretende Geschäftsführerin des Ensembles Elisa Erkelenz, die zusammen mit dem van-Magazin Anfang des Jahres ihr Projekt „outernational“ startete: Entgegen exotisierender Veranstaltungen mit „Weltmusik“ auf dem Programm setzt sie sich für künstlerische Kooperationen auf Augenhöhe ein, „aus der Musik heraus“. Denn der Begriff „Weltmusik“ sei nach wie vor kolonialistisch geprägt und im Grunde abwertend.

Sokratis Sinopoulos mit seiner Lyra

Dass viel Musik, die noch unter dieses Label fällt, Volksmusik ist – zum Beispiel die griechischen „Rembetica“, über die die etwa 60 Besucher am frühen Freitagabend so ungefähr alles erfuhren –, bedeutet in diesem Kontext also gleichzeitig eine Mischung der Genres oder ihre Ausweitung. So ist die Klassik etwas später am Abend – Salvatore Sciarrino, Georg Muffat, Andrea Falconieri – plötzlich ganz nah dran an volksmusikalischer Ästhetik, umschlungen von Kompositionen der französischen Perkussionisten Keyvan und Bijan Chemirani, des griechischen Lyra-Virtuosen Sokratis Sinopoulos und Derya Yildirims melodischem, kraftvollen Saz-Spiel und Gesang. Eine italienisch-barocke Ciaccona 33 ist auch nur ein Tanz, genau wie Bijan Chemiranis „Grybbon“. Am Ende meinte man gar, Yannis Kyriakides‘ meditatives „Music For Viola A“ ähnele formal einer Art Passacaglia 73 , und Bijan Chemiranis monoharmonische „Berceuse A“ oder Keyvan Chemiranis „138“ könnten in ihrem Minimalismus von Erik Satie sein – oder doch, gar nicht so weit weg möglicherweise, vom Techno inspiriert? Außerdem: Sind sich manche der melodischen Themen nicht sowieso unglaublich ähnlich? Die Programmplanung ist meisterhaft.

  1. Die Chaconne ist ursprünglich ein spanischer Tanz aus dem lebensfrohen 16. Jahrhundert, doch sie gibt sich erst mal streng. Denn immer und immer wieder wird bei der Chaconne die gleiche Basslinie wiederholt. Darüber aber tobt meist ein Feuerwerk an Variationen des musikalischen Materials. Selten war Redundanz so aufregend! (AV)

  2. Für viele Leute heut verbunden mit Johann Sebastian Bach und einer genialen Komposition in c-moll. Es dominiert mal wieder der Bass, der ein unveränderliches Thema immer wiederholt. Darüber darf nach herzenslust variiert werden. Ursprünglich war die Passacaglia mal ein volkstümlicher Tanz. (MH)

Die beeindruckendsten Momente in diesem Konzert sind die gemeinsamen Improvisationen.

Die Musiker des Ensemble Resonanz sind beim spätabendlichen Konzert in gold-blau-lilafarbenes Licht getaucht, manche stehen. Ihre Besetzung ist einmalig: Streichquartett und Bass, dazu eine Theorbe (David Bergmüller), eine Lyra (Sokratis Sinopoulos) und diverse Schlaginstrumente – Hackbrett, Zarb, orientalische Rahmentrommeln – und Lauten (Keyvan und Bijan Chemirani). Selbst bei den normalen „Urban String“-Konzerten ist die Besetzung nicht so international. Und so sind die beeindruckendsten Momente in diesem Konzert die gemeinsamen Improvisationen, in denen nicht mehr die persönliche musikalische Sozialisation oder die des Umfeldes die Handlungen und den Klang bestimmen, sondern einzig das in den vorangegangenen Minuten gemeinsam erkundete und abgesteckte klangliche und rhythmische Feld.

Die Chemirani-Brüder bei der Outernational-Night

Da lotet Sciarrinos „Fra sé“ noch die glissandierenden Möglichkeiten einer Violine zwischen Flageolett und festem Griff aus, und kurz darauf entlockt Sinopoulos seiner Lyra Schwingungen, die so obertonreich flirren, als seien sie von jedem Klangkörper losgelöst. Die musikalischen Möglichkeiten quantifizieren sich schier unermesslich, was zwischen den Musikern passiert, ist jazzphilosophisch. Moderner könnte klassische Musik im Zeitalter der Vernetzung und der körperlosen, digitalen Allverfügbarkeit nicht sein. Und richtigerweise strengt es trotzdem an: Das Entgrenzte ist für die Hörer auch eine Herausforderung, und sie applaudieren wie berauscht.

Für das Festival erst einmal alles vom Tisch zu fegen, zumindest rhetorisch, war sicherlich die beste Entscheidung. Die Veranstalter nannten schon das Eröffnungskonzert „Urban String‚ cháos“. In dem fokussierten, „politisch enorm aufgeladenen“ Bezugsraum – griechisch, türkisch, persisch – könne man nämlich nicht, „wie wir hier, von ‚fließenden‘, sondern müsste aktuell eher von sich verfestigenden Grenzen sprechen“, sagt Tobias Rempe. Das „cháos“-Konzept ging auf, ästhetisch und darüber hinaus: Rempe schwärmt von dem heterogenen Publikum, das gekommen war, und von der Werkstattarbeit mit den Künstlern, die mehrere Tage vor Ort blieben: „eine ziemlich aufregende und inspirierende Atmosphäre“. Im Vorhinein des doch recht kurzfristig geplanten Festivals hatte er dennoch mit mehr Andrang gerechnet, „da sind wir durch die Elbphilharmonie und die ‚Urban String‘-Konzerte etwas verwöhnt“. Am Ende war trotzdem jeder Platz besetzt, viele hörten im Stehen zu. Dass dem Ensemble schon Wochen vorher die Karten aus der Hand gerissen werden, das passiert vielleicht 2019 – denn ein zweites „resonanzraum festival“ ist sicher.

© Gerhard Kühne
© Wikimedia/CC0


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