Von Malte Hemmerich, 17.05.2018

Gegen den Strich

Antje Weithaas beweist, dass extreme musikalische Begabung und Extravaganz nicht zwangsläufig zusammenkommen müssen. Wir haben ihr erstes Zusammentreffen mit dem Norwegischen Kammerorchester in Oslo beobachtet und gemeine Fragen gestellt.

Oslo ist eine Baustelle. Rund um das Opernhaus, dessen weißer Marmor an diesem Sommertag mit sonnigen 26 Grad den Anblick ohne Sonnenbrille unerträglich macht, stehen Baukräne und Bagger und heben Gruben aus. Ein paar hundert Meter weiter in einem alten Bankgebäude treffen sich die Musiker des norwegischen Kammerorchesters. Zum ersten Mal kuratiert das Orchester ein Festival im Ausland mit, das Lillenorge in Berlin. Merklich eine große Aufgabe und ebenso gespannt ist die Stimmung, da die Musiker dort mit Antje Weithaas zusammen musizieren werden; heute proben sie zum ersten Mal mit ihr.

Seid umschlungen – von Baukränen

Denn obwohl Oslo und somit Norwegen mit der Oper seit ein paar Jahren an Klassik-Glanz gewonnen haben, ist es nicht alltäglich, dass sich ein großer Künstler hierhin verirrt, um mit einem einheimischen Ensemble zu musizieren.
Und Antje Weithaas ist nicht irgendwer. Ihre Allgegenwart bei herausragenden Musikprojekten und Konzerten gleicht der der etwas älteren Anne Sophie Mutter, obwohl die Künstlerinnen unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Mutter Blaubeeren, Mandelmilch und auf den Punkt gekühltes Wasser in ihrer Konzertgarderobe verlangt, ist Weithaas mit dem Billig-Flieger „Norwegian“ angereist und muss hoffen, dass die ihre Geige auch wieder ohne große Probleme mit zurücknehmen. Hinter ihrer unauffälligen, wenig auf PR polierten Persönlichkeit steckt aber umso mehr Substanz – man merkt es schon in den ersten Sekunden.



Weithaas ist Jahrgang 1966, aufgewachsen in Cottbus in der DDR. Dort genoss sie auch die erste musikalische Ausbildung, in einem Musikinternat in Dresden. Seit 2004 ist sie Professorin für Violine an der Hanns Eisler Musikhochschule in Berlin, konzertierte mit allen namhaften Orchestern, während sie nebenbei mit dem Arcanto-Quartett zugleich eines der besten kammermusikalischen Ensembles ins Leben rief. Und jetzt ist sie hier in Oslo, um mit dem spielfreudigen, aber international noch recht unerfahrenen Ensemble zu spielen. Ob das gelingt?

Elf Jahre jünger als Weithaas ist ihr heutiger Spielpartner, das Norwegische Kammerorchester. Terje Tønnesen, Konzertmeister des Oslo Philharmonic, gründete das Ensemble 1977 als Projektorchester, seitdem spielt man gemeinsam um die zehn Konzerte im Jahr. Die Musiker kommen aus den großen norwegischen Orchestern, nur wenige Freelancer sind darunter, so Tønnesen. Es sind meist junge Musiker, die etwas verändern wollen und die vielen starren Strukturen satt haben.

Stehend hochkonzentriert

In einer Kirche in Moss, 50 Kilometer von Oslo entfernt, musiziert das Orchester einen Tag zuvor „Verklärte Nacht" von Arnold Schönberg – im Stehen, auswendig und unerhört packend. Die Streicher spielen mit fast überfordernder musikalischer Dauerspannung, für das Auftreten und die Gestik hat man extra Kurse bei einem Coach genommen. Und auch wenn dann nicht jede kleine Phrase sitzt, der Ausdruckswillen ist stark und spürbar. Die Goldbergvariationen in einer Jazz-Bearbeitung von und mit Bugge Wesseltoft am Klavier sind da willkommene leichte und spaßige Kost.

Doch zurück nach Oslo. Auf dem Programm: Die durchaus schwierige Kreutzer-Sonate von Ludwig van Beethoven in einer Bearbeitung für Violine und Orchester. Weithaas hat sichtlich Spaß, aber auch Arbeit mit den ungestümen norwegischen Musikern, die sich vielleicht noch etwas zu überdreht in jeden Lauf schmeißen und dabei manchmal die Balance verlieren. Weithaas ist eine Energie- und Stimmungskanone. „Das wird noch" oder „Jetzt war es wirklich super" sind ihre Lieblingssprüche. Dafür wird dann an manch einer Stelle auch nochmal von der Substanz an gefeilt. Drei Stunden Probe vergehen wie im Flug. Nächster Halt: Berlin.



Antje Weithaas und das Norwegische Kammerorchester beim Lillenorge in Berlin:

Das Norwegische Kammerorchester eröffnet das Festival in Berlin am 18.05, unter anderem erklingen der wilde Schönberg und die Goldbergvariationen im späten Konzert des Tages.
Am Samstag, den 19.05, spielt Antje Weithaas dann in verschiedenen Ensembles Werke von Mahler und Bartók.
Für das große Finale am Sonntag, den 20.05, die Kreutzer-Sonate in der Fassung für Solist und Orchester, treten Weithaas und das Norwegische Kammerorchester erstmals gemeinsam auf.

© Malte Hemmerich


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.