Von Malte Hemmerich, 16.11.2019

Bitte aufhören.

Viele Künstler im Klassikbereich scheinen das Aufhören nicht gelernt zu haben. Eigentlich eine private Entscheidung, die aber ärgerlich für Öffentlichkeit und Publikum und auch gefährlich für den Ruf und die Gesundheit werden kann.

Dirigent Mariss Jansons ist mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gerade auf einer umjubelten Welttournee. Zumindest auf dem Papier.
Doch der 76-jährige Maestro leitet selbst nur einen Bruchteil der Konzerte. Meist stehen Daniel Harding oder Vasily Petrenko vertretend am Pult. Jansons meldet sich, meist sehr kurzfristig, krank. Eigentlich ja eine sehr private Entscheidung, und Vorwürfe und Spekulationen sind fehl am Platze, doch wenn tausende Kartenkäufer so enttäuscht werden, muss doch Raum sein für eine kleine öffentliche Debatte: Warum fällt es Jansons angesichts seines sichtlich labilen Gesundheitszustands so schwer, eine unglaublich erfolgreiche Karriere nun ausklingen zu lassen: Strapaziert er seine Gesundheit allein aus Liebe zur Musik, oder möchte er das biblische Pultalter seiner Kollegen Haitink und Blomstedt knacken?
Bei Dirigenten häuft sich über die Karrierejahre sicher ein Erfahrungsschatz an, den sie mit möglichst vielen Menschen teilen möchten. Und wer die teilweise steinalten Weisen am Pult hört, ist dann doch geradezu geflasht. Dafür bleibt eben ein Restrisiko beim Kartenkauf.
Anders liegt der Fall bei den Musikern, deren körperliche Verfassung direkt Einfluss nimmt auf das Musizieren. Ein legendärer Mitschnitt zeigt den Pianisten Horowitz, der im Alter von 75 Jahren mit Müh und Not gemeinsam mit dem Orchester das bärenschwere 3. Klavierkonzert von Rachmaninow beendet.



Ob seine eigensinnige Interpretation, die der Komponist selber unglaublich schätzte, die technischen Mängel und den Stress für alle anderen Beteiligten aufwiegt?
Sollten wir noch professionelle Maßstäbe an die Rentnerpianisten Barenboim und Pollini anlegen, die doch arg über die Tasten schlingern? Im letzten Fall tut das eine britische Zeitung mit dem wenig schmeichelhaften Ergebnis: Pollinis ihn immer auszeichnende Präzision sei nicht mehr vorhanden, er möge bitte aufhören zu spielen.
Was für alte Konzertgänger vielleicht noch einen gewissen Charme hat, da sie die Solisten in ihrer Karriere begleitet haben und nun auch über manche Ungenauigkeit wohlwollend hinwegsehen, ist für die junge Generation vor allem eins: ein teures Ärgernis. Für sie bleibt der Künstler im Gedächtnis als einer, der es noch macht, obwohl nicht mehr viel geht, und trotzdem keinen Rabatt auf die Eintrittspreise gewährt. Stattdessen zahlen wir hier für eine teure Antiquität im schlechten Zustand!

Würden Künstler wirklich für die Kunst leben, wüssten sie, wann es Zeit ist aufzuhören, weil sie ihr nicht mehr gerecht werden.

Natürlich: Technische Vollkommenheit ist nicht alles, aber dabei zuzusehen, wie die Hände dem klugen Kopf die Arbeit versagen, ist vor allem eins, nämlich unangenehm und traurig. Besonders gefährlich wird das Ganze bei den Sängern. Hier ist der Körper das Instrument. Und dann ist es, wenn man im Konzert einen großen Thomas Hampson durch Rossini stolpern hört so, als würde Diego Maradona wieder Fußball in der Champions League spielen: Das will eigentlich niemand sehen.
Würden die Künstler wirklich für die Kunst leben, wüssten sie, wann es Zeit ist aufzuhören, weil sie ihr nicht mehr gerecht werden. Diese Koryphäen könnten sich ganz auf Lehre und Weitergabe ihres Wissens konzentrieren, als Talentscouts an den großen Häusern fungieren. Und es drängt sich der Eindruck auf, als wäre es doch auch die Eitelkeit, die alte Künstler weiter auf die Bühne treibt, ein jahrelang gepudertes Ego, auch durch die weiterhin blindlings jubelnden Hardcore-Fans. Niemand wünscht einem großen Musiker einen Abschied im Buh-Sturm, doch vielleicht ist das eine Möglichkeit, vorsichtig auf eine Überdehnung der wirklich musikliebenden Zuhörernerven hinzuweisen. Wenn aber Plácido Domingo trotz mittlerweile stimmlicher Obermittelklasse, wagnerschlachtender Dirigate in Bayreuth und Missbrauchs-Vorwürfen auch bei den nächsten Salzburger Festspielen und überhaupt der Hof gemacht wird, ist das symptomatisch für den nachsichtigen Umgang mit den Altstars. Wenn Massen faltiger Fangirls (und Boys) in Publikum und journalistischen Beiträgen weiterhin Treue, ja auf eine besonders eklige Art so etwas wie Zuneigung bekunden, ist das meist blindes Verehren über jede künstlerische Beurteilung hinaus. Wer Künstler zu unfehlbaren Weisen macht, muss sich nicht wundern, wenn diese nicht freiwillig abtreten, sondern am liebsten bis zum Grabe auf der Bühne stehen wollen.

© Pixabay


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