Ein Mann greift eine Frau körperlich an und viele Menschen sehen zu. Denn der Angriff passiert in der Öffentlichkeit, im Foyer eines Opernhauses. Der Mann schmiert der Frau Hundekot ins Gesicht. Sie schreit. Was hier passiert ist, ist schnell zusammengefasst: Gewalt eines Mannes gegen eine Frau.
Das Echo in den Sozialen Netzwerken und den Medien nach dieser Tat ist groß, denn der Täter ist Choreograph Marco Goecke und das Opfer die FAZ-Journalistin Wiebke Hüster, die am 11. Februar während der Pause von Goeckes Ballettpremiere „Glaube - Liebe - Hoffnung“ im Foyer der Staatsoper Hannover erst verbal, dann körperlich von ihm angegriffen wird.
„Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. Überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles, aber – shit happens“, kommentiert Autorin Sibylle Berg anschließend auf Twitter. Es ist nur einer von vielen verharmlosenden Sätzen, die auf Goeckes Tat folgen. Es ist nur ein Beispiel für eine vollkommen entgleiste Debatte. Auch der Täter selbst rechtfertigt sich zwei Tage später im NDR mit „sehr unglücklichen Verstrickungen“, die zu seinem Angriff geführt hätten. Seine Stellungnahme, die er später über sein Management veröffentlicht, klingt ebenfalls alles andere als einsichtig. Auf seine Worte, er bitte um Entschuldigung, dass ihm „letztlich der Kragen geplatzt“ sei, folgt direkt die nächste Rechtfertigung: „Ich bitte aber auch um ein gewisses Verständnis zumindest für die Gründe, aus denen dies geschehen ist.“
Über die Gründe, warum Marco Goecke der FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster – mal ganz deutlich gesagt – die Scheiße seines Hundes ins Gesicht geschmiert hat, wird seit der Tat des Choreographen viel diskutiert. Was darf Kritik, welche Grenzen gibt es? Dass es sich nach so einer Tat überwiegend um diese Fragen dreht, schmerzt, denn es dürfte im Zusammenhang mit einem tätlichen Übergriff auf sie gar nicht zur Diskussion stehen, dass Wiebke Hüster sowohl in Hannover als auch bei allen anderen Stücken, die sie bisher rezensiert hat, einfach nur eines getan hat: ihren Job. Genauso wenig sollte in der Diskussion untergehen, dass sie während der Ausübung ihres Berufs zum Opfer körperlicher Gewalt wurde.
Von dem Übergriff bis zu dem Tag, an dem die Staatsoper Hannover sich von Goecke trennt, vergehen fünf Tage. Und als Opernintendantin Laura Berman am 16. Februar vor die Presse tritt, da hat sie gerade einmal zwei Sätze für Wiebke Hüster übrig, in denen sie von der öffentlichen Demütigung der Journalistin spricht, für die sie sich entschuldigen wolle. Ihre Worte wirken nicht nur, sondern sind nach einer solchen Attacke ein Paradebeispiel für die Verharmlosung einer Tat, die sicherlich auch demütigend war, aber vor allem gewalttätig. Was die Intendantin dann jedoch über ihren nun ehemaligen Choreographen sagt, kommt einer Täter-Opfer-Umkehr immer näher.
Sie spricht über Marco Goecke als „mitfühlenden, rücksichtsvollen, humorvollen, gelegentlich sehr verletzlichen Menschen“. Und sie reichert das Narrativ der bösen Kulturkritik weiter an, indem sie sagt: „Die Kritik, der ein Künstler, eine Künstlerin, in der heutigen Zeit ausgesetzt ist, ist nicht allein die professionelle Kritik in den etablierten Medien. In einer Zeit, in der jede und jeder auf unterschiedlichsten Kanälen seine Meinung – zum Teil anonym und oft ohne jegliches Verantwortungsbewusstsein – äußern kann und darf, wird ein Druck aufgebaut, der für ein Individuum kaum erträglich ist“. Ihr Nachsatz, dass dies selbstverständlich keine Übergriffe entschuldige, wirkt danach wie eine Floskel. Und ganz generell bleibt die Frage offen, was das alles mit Goeckes Übergriff zu tun hat?
Wiebke Hüster gehört zu den von Berman genannten „etablierten Medien“ und sie hat sich weder „anonym“ noch „ohne jegliches Verantwortungsbewusstsein“ in ihrer Kritik über Goeckes Stück am Nederlands Dans Theater in Den Haag, die am Tag der Tat erschien, geäußert. Womit Berman Recht hat: Der Ton in den sozialen Medien ist rau, die Kommentarspalten oft voll von gewaltvoller Sprache – das wissen übrigens vor allem Journalist:innen aus eigener, leidiger Erfahrung sehr genau. Doch all das tut in der Causa Goecke nichts zur Sache: Hier hat ein Mensch einen anderen Menschen körperlich aufs Widerlichste angegriffen, ein Mann eine Frau. Das ist nicht schönzureden und mit nichts zu rechtfertigen.
Der Komponist Moritz Eggert schreibt in seinem Blog der Neuen Musikzeitung zu dem Fall nach einem langen Sermon darüber, wie Kritiken über seine Stücke ihn bisher bewegt haben, abschließend: „Insofern ist das Beschmeißen mit Kot vielleicht nicht die charmanteste Art, eine solche Diskussion zu führen. Aber geführt werden muss sie.“ Dass eine Debatte geführt werden muss, damit hat er Recht. Doch es geht hier nicht um das Verhältnis von Kunst und Kritik. Es geht um Gewalt gegen Frauen. Und es geht darum, dass nach einem Akt körperlicher Gewalt eines Mannes gegen eine Frau binnen weniger Stunden über die Schuldfrage des Opfers diskutiert wird. Kaum bis gar nicht hingegen über die des Aggressors. Und der heißt, ganz gleich ob Künstler, Ausnahmemensch oder Dackelbesitzer: Marco Goecke.