Die Dame neben mir hatte es nicht leicht. Auf drollige Trolle hatte sie gewartet, liebliche Elfen, eine romantische Märchenreise durch Norwegen, an die Hand genommen und entführt von schauspielerischer Prominenz: Sunnyi Melles und Matthias Brandt waren als Märchenerzähler:innen am vergangenen Freitag und Sonntag zum Konzert in die Bonner Oper eingeladen. Die Peer-Gynt-Suiten von Edvard Grieg sind Wunschkonzertschlager. Beim Freitagskonzert in Bonn stand nun die ursprüngliche Bühnenfassung auf dem Programm, mit der vollständigen Musik und einer Textmontage des Dramas von Henrik Ibsen von dem Schweizer Germanisten und Musikwissenschaftler Alain Perroux. Selten war die Oper Bonn so voll. Und es hätte alles schrecklich kitschig werden können.
Von der ersten Note an aber war klar, dass es possierliche, zwitschernde Vöglein im Morgengrauen hier nicht geben wird. Trügerisch erklingt das Dur der ersten Takte, martialisch stampfen die norwegischen Tanzrhythmen. Dann erzählt die Klarinette von Solveig, dem Mädchen, das Peer Gynt zu seiner Retterin auserkoren hat – leise, innerlich und auf prophetische Weise grübelnd, fragend.
Solveig wird Peer Gynt an diesem Abend nicht retten. Weil sie für ihn von vorneherein nicht als reale, handlungsfähige Person existiert, sondern als bloßes Produkt seiner Fantasie. Als eine Projektion der reinen, engelgleichen Frau, die in unzähligen Werken der Romantik zum Wohl der Männer geopfert wird. Alain Perroux, derzeit Generalintendant der Opéra national du Rhin, arbeitet das in seiner Textmontage von 1998 auf brillante Weise heraus. Mehrfach ausgezeichnet wurde damals die Aufnahme, die bei Harmonia Mundi erschienen ist. Die Produktion in Bonn zeigt, dass diese Bearbeitung an Brisanz und Ausdruckskraft nichts eingebüßt hat. Perroux interessiert sich nicht sonderlich für die ewige Frage, was in Ibsens Drama real geschieht und was sich allein in Peers Imagination abspielt. Er macht stattdessen sichtbar, wie sehr die Figuren und Schauplätze durch die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten verzerrt dargestellt werden.
Peer sieht nicht Menschen, sondern Stereotype: sich selbst als strahlende Heldenfigur. Seine Mutter Åse als schrappige Alte, die ihn glorifiziert und kontrolliert, und die erst als Tote einen Platz in seinem Herzen verdient. Ingrid als Beute. Das Trollmädchen zuerst als Schönheit, dann als hässliche Stalkerin (nachdem er sie geschwängert hat). Den Trollkönig als nationalistischen Hinterwäldler. Solveig als Madonnenfigur, die er nicht verdient und von der er dennoch seine Rettung erwartet. Anitra als exotische Tänzerin und gefährliche Verführerin, die ihn durch ihre Hinterlist in eine innere Krise stürzt und bis ins Irrenhaus treibt. Ikonisch erscheint die Sopranistin Lada Bočkóva in Gestalt der Solveig auf dem erhöhten Balkon rechts von der Bühne. Mit berückender Reinheit fließt ihre Stimme herab.
Peer Gynt ist dabei ein Rast- und Rücksichtsloser, großartig verkörpert von Matthias Brandt, der nicht hohl persifliert, sondern seine Rolle in all ihren charakterlichen Marotten seziert. An die Stelle der Gestalten, denen Peer auf seiner Reise begegnet, tritt Sunnyi Melles, die von einer Rolle in die nächste schlüpft: von einer Frauenfigur zur anderen, vom Trollkönig mit schweizerischem Einschlag bis zum grauenhaften Höhlengeist, der sich „der große Krumme“ nennt. Sunnyi Melles beschwört dieses Monster, indem sie ihr Gesicht unter einem schwarzen Tuch verbirgt, minutenlang regungslos darunter verharrt und Peer mit grauenhafter, elektronisch verfremdeter Stimme bedroht. Es gelingt ihr, ein ganzes Ensemble an Schauspieler:innen zu ersetzen.
Schalen über Schalen fallen, nur Leere bleibt
Dass sie alleine auf der Bühne steht, ist indes keine Sparmaßnahme. Wohlüberlegt stellt Alain Perroux seinem verkorksten Peer eine Frauengestalt gegenüber, die seinen dezidiert männlichen und westlich geprägten Blick auf die Welt enttarnt. Das Bild der Zwiebel Ibsens wird hier einmal mehr zum Sinnbild: für eine Identität, die nur aus Schalen besteht und keinen Kern besitzt. Peer weiß nicht, wer er ist. Und anstatt die Realität zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen, inszeniert er sich als Ausnahmeerscheinung und seine Umwelt als ständiges Gegenbild. Die Luftschlösser, die er baut, sein ständiges Flüchten und Ausweichen, seine hirnlose Risikobereitschaft, seine Rücksichtslosigkeit – all das wird spielerisch und mit bissigem Humor vorgeführt. Perroux zeigt dabei ein unglaubliches Bewusstsein für die Wirkung der Musik auf den Inhalt. So wird etwa deutlich, dass die exotische Klangkulisse, mit der Grieg die arabische Welt erweckt, nicht genuin ist, sondern von Peers Perspektive und damit von einem westlich konstruierten Orientbild zeugt.
Bei aller Brillanz der Textmontage kann das nur gelingen, weil Dirk Kaftan ihre Deutungsweisen so überzeugend musikalisch reflektiert. Das Beethoven Orchester und der Philharmonische Chor der Stadt Bonn sind on fire. In Schostakowitsch-Manier rattert die Maschine unaufhaltsam und präzise in den rhythmischen Passagen, zart und differenziert klingen die lyrischen. In keinem Augenblick verkommt die Musik zum Klischee. Die berühmten Passagen, die oft so zäh und quietschig klingen wie alte Fruchtkaubonbons, verwandeln die Musiker:innen zu fragilen Gebilden, die in pechschwarze Abgründe stürzen. Dshamilja Kaiser ist eine überragende Anitra. Wunderbar auch Giorgos Kanaris, der Peer Gynt im zweiten Akt eine Stimme verleiht. Der Philharmonische Chor keift und krächzt und singt voll Inbrunst und Innigkeit, mit makelloser Artikulation und Textverständlichkeit. Die Musik spottet und persifliert und lässt zugleich immer erahnen, dass sich hinter den Fratzen, die Peer Gynt überall lauern sieht, eine echte Welt und echte Menschen verbergen.
Die Dame neben mir ist nach der ersten Hälfte nicht wiedergekommen. Alle anderen im Saal applaudierten minutenlang, stehend, in tosender Lautstärke. Vielleicht gab es rechtliche Bedenken oder andere sachliche Gründe – aber nach diesem Sonntagabend frage ich mich wirklich, warum zur Trollhöhle das niemand aufgezeichnet hat!