Von Peter Steinert, 25.09.2022

Ein Gedächtnis der Frauen

Das "Archiv Frau und Musik" in Frankfurt ist die weltweit größte Sammlung zu Komponistinnen, Dirigentinnen und Musikerinnen. Doch wo gibt es in der Musikbranche noch besonders Nachholbedarf an Repräsentation von Frauen? Ein Gespräch mit Heike Matthiesen, eine der drei ehrenamtlichen Vorstände, über Clara Schumann, neue Traditionen und eine Frauen-Quote.

niusic: Was unterscheidet euer Archiv von anderen Projekten zu Frauen in der klassischen Musik?
Heike Matthiesen: Im Gegensatz zu vielen anderen Initiativen haben wir eben auch Bestände. Gerade während Corona sind viele fantastische neue Projekte entstanden, wo Leute zum Teil riesige Datenbanken gebastelt haben. Talia Ilan sammelt auf Twitter mit #oneconductoraday. Oder es gibt Donne aus England, die eine Liste mit über 5000 Komponistinnen zusammengetragen haben. In Amerika gibt es außerdem die composer diversity-Datenbank mit knapp 4000 Komponistinnen – wir haben hier jetzt glaube ich Werke von 2000 vor Ort. Aber bei den Listen sind das dann reine Namen, die haben natürlich keine Präsenzbibliothek. Selbstverständlich ist es aber eine Wahnsinnshilfe für unsere Anschaffungsliste. Der Unterschied zu uns ist, dass man hier eben auch in die Noten reinschauen kann – real und physisch, nicht als reine „Adressensammlung“ sozusagen. Bei uns findest du die Konzertplakate aus den 80er-Jahren und kannst Briefwechsel nachlesen. Wir dokumentieren die Geschichte zu all dem – und das ist ja fast noch spannender.

"Es verändert sich scheinbar schon sehr viel, aber es ist noch nicht in einer Form angekommen, die es widerspiegelt."

niusic: Was wäre ein konkreter Punkt, der sich in der Musikbranche ändern müsste?
Heike Matthiesen: In den 80er-Jahren habe ich Judith Somogi in der Frankfurter Oper gesehen. Da habe ich das erste Mal wahrgenommen, dass Dirigentinnen existieren können. Es hat davor schon ganz viele gegeben, die aber in Vergessenheit geraten sind. Inzwischen gibt es unglaublich viele, aber es ist immer noch so, dass viele eine gewisse Alibifunktion für Veranstaltende haben. Es ist einfacher, pro Saison eine einzelne Dirigentin einzukaufen, als in einer großen Symphonie-Konzertreihe wirklich einen Abend nur Frauenwerke zu spielen. Du kannst die Frau immer noch Beethoven dirigieren lassen; damit ist das Publikum nicht verschreckt.

niusic: Du meinst also, es ändert sich schon etwas, nur müsste es grundlegender passieren?
Heike Matthiesen: Natürlich haben Dirigentinnen im Moment Karrierechancen wie niemals vorher. Und es werden ja auch immer mehr Frauen irgendwo Chefdirigentin, das meine ich nicht mit dem Begriff „Alibi-Frau“. Aber bei vielen Konzertreihen hat man das Gefühl, da hat jemand gesagt: Wir können so nicht weitermachen und das ist jetzt der geringste Kompromiss. Deswegen bin ich persönlich inzwischen für die Quote – einfach, damit es normal wird. Und dann ist es auch wieder in Ordnung, wenn erstmal pro Saison nur eine Dirigentin dirigiert, weil dann jeder weiß, dass es normal ist, dass es Dirigentinnen gibt. Es verändert sich scheinbar schon sehr viel, aber es ist noch nicht in einer Form angekommen, die es widerspiegelt.

Über das Archiv

Das Projekt ist 1979 in Köln nach einem Artikel von Dirigentin Elke Mascha Blankenburg in der feministischen Zeitschrift "Emma" entstanden. Anfangs noch als Wohnzimmersammlung gestartet, umfasst das Archiv heute etwa 30.000 Medieneinheiten, darunter Noten, Tonträger, Poster, Briefe, Programmzettel, Kritiken und Manuskripte von Frauen. Träger ist seit Gründungsjahr der gemeinnützige Verein "Internationaler Arbeitskreis Frau und Musik", der heute knapp 200 Mitglieder zählt. Die Initiative finanziert sich durch Gelder von Stadt, Land, ihren Mitgliedsbeiträgen sowie Spenden. Genutzt wird das Archiv u.a. von Musiker:innen und Veranstalter:innen, die Programmreihen zusammenstellen oder Musik aufnehmen, aber auch für Forschungsprojekte und Pressearbeit.
(Website: archiv-frau-musik.de)

niusic: Wo merkst du das besonders?
Heike Matthiesen: Ich kenne das mit dem geringen Prozentsatz an Frauen ja auch aus meiner Berufsrealität als Gitarristin. Bei Dirigentinnen sind die Zahlen hochgegangen, bei Werken von Komponistinnen auf den Spielplänen auch. Aber was zum Beispiel wirklich noch fehlt, ist der Anteil bei Wettbewerbslisten, bei den Pflichtstücken im ARD-Musikwettbewerb, Jugend Musiziert und in den Schulbüchern. Und eben nicht nur als „Schwester von… “ oder „Ehefrau von… “. Und was ich auch ganz wichtig finde: Eine Quote im Radio. Das typische Klassik-Publikum hört ja weiterhin Radio. Die Leute schalten nicht beim ersten unbekannten Titel ab; den einen hören sie durch. Wenn danach dann wieder „Clair de lune“ kommt, dann ist gut. Oder die Titelmelodie der Musikstunde im SWR 2: ein Gitarrenstück von Emilia Giuliani, einer Frau. Das ist eines der berühmtesten unbekannten Gitarrenstücke. Aber ich glaube, es gibt in Deutschland noch keine regelmäßige Radiosendung speziell zu Komponistinnen. Da ist noch ganz viel möglich.

"Das ist, rein praktisch gesehen, ein riesiger Markt für alle Klassik-Fans, die endlich mal was Neues kaufen wollen und nicht noch einen weiteren Beethoven."

niusic: Und das wäre dann mal nicht immer nur das gleiche Programm…
Heike Matthiesen: Die Zeiten haben sich geändert. Wie unendlich viele Werke sind schon zig Mal von sämtlichen Plattenfirmen aufgenommen worden? Dabei ist das ein Markt – also auch im Interesse der Industrie. Die Deutsche Grammophon hat ein Grammy bekommen für die Aufnahme von Florence Price. Die hat noch nicht jeder fünfmal zu Hause stehen. Das ist, rein praktisch gesehen, ein riesiger Markt für alle Klassik-Fans, die endlich mal was Neues kaufen wollen und nicht noch einen weiteren Beethoven. Und bei Gesamtaufnahmen, die es noch nicht gibt, wäre das endlich mal was, wo auch Plattenfirmen investieren könnten. Also nicht nur aus Idealismus, sondern die bekommen auch große Aufmerksamkeit in Kritiken, die kriegen Preise dafür und so weiter. Und im Idealfall: Die Pianistin Isata Kanneh-Mason war mit ihrem Clara-Schumann-Konzert in England auf Platz eins der Verkaufs-Charts. Was will man mehr? Länder wie Schweden sind uns da meilenweit voraus.

niusic: Du sagst also, durch ein diverseres Programm kann man auch ein größeres Publikum erreichen?
Heike Matthiesen: Ja, Länder wie Schweden sind uns da meilenweit voraus. Zum Beispiel war in Stockholm das Projekt „Ladies versus Beethoven“ geplant. Es musste dann wegen Corona abgesagt werden, aber dort sollten bei einem Orchesterfestival am Konserthuset Stockholm alle Beethoven-Sinfonien aufgeführt werden – allerdings gekoppelt mit dem Werk jeweils einer zeitgenössischen Komponistin. Und da hieß es, seitdem sie die Programme divers machen, sind die Abonnent:innenzahlen hochgegangen. Die Pianistin Beatrice Rana hat jetzt einen Riesenerfolg gehabt mit ihrer Europa-Tournee mit dem Clara-Schumann-Konzert. Und wenn das jemand in dieser Liga mit dem BR-Symphonieorchester in sein Repertoire aufnimmt, dann ist es auch nicht mehr „nischiger Künstler:in spielt Komponistin“, sondern es kommt auch im Mainstream an. Raphaela Gromes macht jetzt ein 2-CD-Projekt nur mit Komponistinnen mit Sony. Das ist sensationell! Das heißt, auch Sony hat kapiert: Das kann jemand kaufen, der schon jedes Konzert tausendfach gesammelt hat. Das ist für alle Seiten eine Win-Win-Situation.



"Wir können jetzt nach Corona neue Traditionen setzen, wir können neue Formate entwickeln. Das ist eine unfassbare Chance. "

niusic: Und gleichzeitig verändert es die Konzertlandschaft und auch die Szene der Klassischen Musik maßgeblich.
Heike Matthiesen: Wenn man jetzt ein neues Publikum gewinnt – das kennt ja auch die alten Traditionen nicht mehr. Wir können jetzt nach Corona neue Traditionen setzen, wir können neue Formate entwickeln… Das ist eine unfassbare Chance, jetzt wo der Konzertbetrieb langsam wieder hochfährt. Dass Musiker:innen mit anderem Repertoire um die Ecke kommen – und zwar mit fertigem, weil sie durch Corona zwei Jahre Zeit hatten, sich mit Komponistinnen zu beschäftigen. Die Anfragen auf unserer Website haben sich im letzten Jahr tatsächlich verfünffacht. Das ist der Aberwitz daran: Das Thema war durch #MeToo und allem sowieso schon wild in der Diskussion und plötzlich hatten alle durch die Pandemie Zeit. Das hat ganz viel Energie freigesetzt.

niusic: Die Pandemie war also Nährboden, auf dem diese Entwicklung dann so richtig wachsen konnte?
Heike Matthiesen: Das Internet hat die Situation für Komponistinnen sowieso schon in ein goldenes Zeitalter verwandelt. Die Werke, die überliefert sind, sind fast immer die, die gedruckt sind. Das heißt, du musstest im 19. Jahrhundert an einem Verlagschef vorbei, um deine Sachen bewahrt zu bekommen. Heute kann jede Komponistin eine Homepage aufmachen und im Zweifelsfall einfach dort verkaufen. Und mit PDF sind die Sachen lesbar, verteilbar und verschickbar. Du brauchst dieses Nadelöhr „Verlag“ nicht mehr. Das ist einfach eine komplette Änderung der Spielregeln. Du kommst durch das Internet inzwischen an Stücke ran, kannst Komponistinnen kontaktieren und findest Bibliotheken.

Praxis-Projekte

Neben der Funktion als Datenbank und Anlaufstelle führt das Archiv Frau und Musik auch einige weitere Projekte. Alle zwei bis drei Jahre wird etwa das internationale Arbeitsstipendium „composer in residence“ ausgeschrieben, bei der eine Komponistin für ein Vierteljahr nach Frankfurt zieht, um dort eine frei gestaltbare künstlerische Arbeit zu entwerfen. Anschließend wird diese in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) zur Aufführung gebracht. In einem weiteren Projekt werden die Stücke dann Schulklassen vorgestellt. Auch ein allgemeines digitales Schulbuch-Paket mit fertig zusammengestellten Materialien bietet der Verein für den Schulunterricht an.

niusic: Was sind Träume, für die ihr (noch) nicht die Kapazitäten habt?
Heike Matthiesen: Vielleicht ist es ja technisch irgendwann möglich, dass wirklich alle Informationen zu Komponistinnen und Dirigentinnen hier als Sammlung zusammenlaufen. Also wenn alle weltweit helfen würden, das zusammenzutragen zu einem realen Gedächtnis der Frauen. Und auch wenn es verschiedene Standorte gäbe: Dass man trotzdem eine große, virtuelle, weltweite Sammlung zusammenkriegt mit dem gesamten Wissen. Dass sich alles miteinander verdrahtet und auch die Suchen zusammenlaufen von all diesen Archiven und Orten, die Wissen zusammengetragen haben. Plus eine riesige Konzertreihe, plus einen Wettbewerb, plus Jugendförderung, plus Kompositionsworkshops für Kinder… Was könnte man noch alles machen? Also da gäbe es viele, viele Träume. Wir bekommen auch ständig Anfragen von Musiker:innen, die fragen, ob sie bei uns spielen können. Mein persönlicher Traum wäre ein Interpretationswettbewerb für Musik von Komponistinnen. Den gibt es noch nicht. Oder man macht hier eine Komponistinnen-Konzertreihe, wenn wir schon das Archiv hier haben. Also Werke aus dem Archiv. Aber wie soll man das alles stemmen? Wenn gerade jemand von uns freie Zeit hat, sitzt er da und schreibt Anträge. Dieses Ziel, das Archiv zum Klingen zu bringen... da wäre noch viel möglich.

© Ahmad Ardity / Symbolbild von Pixabay
© Heike Matthiesen


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