Von Carsten Hinrichs, 03.09.2019

Maßarbeit

Alles eine Frage der Proportion: Als eine der großartigsten Architekturen der Renaissance eingeweiht wird, will der beauftragte Komponist Guillaume Dufay mehr abliefern als eine konventionelle Jubelhymne.

Die Einführung des modernen Konzertsaals hat den Raum beim Musikhören weitgehend aus dem Bewusstsein genommen. Wir sind die Kombination aus Garderobe, Sitzplatz, Schnittchentankstelle und Parkhaus derart gewöhnt, dass der Konzertsaal erst dann zum Thema wird, wenn er architektonisch äußerlich die Regelfälle „Schuhkarton“ oder „Puderdose“ verlässt (Elbphilharmonie, Hamburg) – oder sich akustisch unangenehm in den Vordergrund spielt (Elbphilharmonie, Hamburg). Konzertsäle sind derart normiert und optimiert für das Erlebnis Livemusik, dass sie selbst kaum noch wahrgenommen werden.

Anders ist das in der Alten Musik, wo der ursprüngliche Aufführungsort zu den befragten Quellen gehört, um mehr über die jeweilige Musik herauszufinden. Was dann natürlich in der Suche nach einem adäquaten Aufführungsort in der Neuzeit münden sollte. So verblüfft die Erkenntnis, dass der Saal im Wiener Palais des Fürsten Lobkowitz, in dem Ludwig van Beethoven seine 3. Sinfonie „Eroica“ uraufführte, nur Platz für ein überraschend kammermusikalisches Orchester lässt („Schuhkarton“ im anderen Sinne).



Zweifellos klingt jede Musik im für sie gedachten Raum am besten. Zumindest wenn Komponisten beim Schreiben an einen speziellen Uraufführungsraum dachten. Doch kann sich Musik dem Raum auch völlig unterordnen? Kann sie Architektur gar auf musikalische Ebene übersetzen, den Raum in ihre DNA einschreiben?

Ein Beispiel gibt es. Zur Weihe des nach langer Bauzeit fertig gestellten Florentiner Domes am 25. März 1436 erklingt eine Domweihmotette des frankoflämischen Komponisten Guillaume Dufay: „Nuper rosarum flores“. Der begnügt sich nicht damit, die aus der Bibel bekannten Weiheverse zu vertonen und die Stadt Florenz schon im Titel anklingen zu lassen. Er überträgt die Architektur selbst in seine Komposition. Wie der Musikwissenschaftler Charles Warren bei seiner Untersuchung feststellte, nutzte Dufay die in Renaissancemotetten festgelegten Tempoverhältnisse der Stimmen zueinander, um das Maßwerk des Domes abzubilden. Ein für alle gleichzeitiges Taktverhältnis gab es noch nicht, vielmehr geben die Vorzeichen an, in welcher Proportion zueinander die Geschwindigkeiten der Stimmen stehen. Das macht die Aufführung dieser Musik bis heute so komplex. Dabei sieht die Handschrift des vierstimmigen Werkes geradezu heiter aufgeräumt aus.

Die räumlichen Proportionen des Domes – Langhaus zu Querschiff zu Apsis zu Kuppelhöhe, in Zahlen: 6:4:2:3 – finden sich in den Tempi wieder als 2x3/2 zu 2x4/4 zu 4/4 zu 6/4. Perfekte Harmonie der Stimmen untereinander.
Darüber hinaus fand Warren in der Komposition noch etliche Zahlenspielereien und Belege für die Fibonacci-Reihe (aufsteigende Summe der jeweils vorangegangenen zwei Zahlen: 1, 1, 2, 3, 5, 8 ...), die als einfache Formel des berühmten „Goldenen Schnitts“ gilt. Sie prägt vielfältig auch Gestalt und Verzierungen des Domes.
Hören lässt sich das alles nicht, und als Absicht Dufays belegen natürlich auch nicht. Das ist wie mit den Zahlenkanones von Johann Sebastian Bach. Aber sich hörend in das Stimmgeflecht der Motette zu versenken und von ihrem Ebenmaß davontragen zu lassen, das kann man ja auch ohne Architekturstudium.




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