Von Konrad Bott, 01.08.2019

Unerhört

Musik zu bewerten ist schon schwer. Zeitgenössische klassische Musik zu bewerten ist eine Sache für absolute Nerds. Oder? Eine Jury aus Laien steht beim Young Euro Classic-Festival vor genau dieser Aufgabe. Um zu erfahren, ob diese Idee gut ist – oder nur gut gemeint, haben wir zwei Juroren unter die Lupe genommen.

Zwischen den grimmigen Bronzelöwen fließt ein Teppich über die steinernen Stufen. Blau mit gelben Sternen: Europa! Deutlicher, majestätischer kann der Staatenbund kaum repräsentiert werden. Verloren wirken die Touristenhäufchen, die sich auf dem weitläufigen Gendarmenmarkt vor dem Berliner Konzerthaus verteilen. Verloren auch die Besucher des Young Euro Classic-Festivals, die sich zwischen den Jubiläumsbannern den Weg von einem Eingang zum nächsten beschreiben lassen: „Mein Gott, so groß ist das hier!“ Young Euro Classic feiert zwanzigjähriges Bestehen und verspricht an vollen neunzehn Tagen „die besten Jugendorchester der Welt“. Dabei fördert das Festival jedes Jahr zeitgenössische Komponisten. Neue Werke aus Polen, der Türkei, der Dominikanischen Republik, Portugal und vielen anderen Ländern – das Programm 2019 ist lang und bunt. Unten am Fuß der ausladenden Konzerthaus-Treppe steht der Mann, der sie sich alle anhört: Tom Reichelt, dreißig Jahre alt, Potsdamer Bibliothekar und Mitglied der Laienjury, die den Young Euro Classic-Komponistenpreis vergeben wird.

Fakten zur Young Euro Classic-Jury

Seine schmale Tasche hält Tom fest unter den Arm gepresst, seinem forschenden Blick hinter der großen Brille scheint kein Bücherskorpion entkommen zu können. „Ich hatte immer so eine Klassik-Card, mit der ich früher manchmal Freunde ins Konzert eingeladen habe. In meinem direkten Umfeld ist niemand wirklich klassikaffin.“ Musiklehrer wäre er gerne mal geworden, erzählt er, aber die Aufnahmeprüfung hat er nicht geschafft. Irgendwie war das mit der Vermittlung dann nicht ganz sein Ding. „Aber Tonsatz und Musiktheorie geht ganz gut. Mich faszinieren vor allem die vielen Möglichkeiten, einen Orchestersatz zu arrangieren.“ Seine Helden: Alfred Schnittke und Philipp Glass – Komponisten die ungefähr so viel verbindet wie, nunja, dass sie Zeitgenossen waren. Die Uraufführungen der Festivaltage zu bewerten traut Tom sich ohne Weiteres zu. „Sonst hätte ich mich ja nicht beworben“, meint er trocken, und seine schmalen Lippen kräuseln sich zu einem verhaltenen Lächeln. Ein Juror wie er im Buche steht. Aber ein Laie?

Tom Reichelt teilt direkt nach dem Konzert seine Gedanken zu Füsun Köksals Stück „Silent Echoes“



Vor dem Konzert hatte Tom betont, dass das Bauchgefühl eine wichtige Rolle für ihn spiele. Sein Urteil, das er später vorsichtig und differenziert formuliert, wirkt, als bewerte er jeden zweiten Tag Neuaufführungen: gelassen, mit analytischem Geschick. Immer wieder benutzt er Begriffe, die einem blutigen Laien nicht unbedingt bekannt sind, und er benutzt sie korrekt und nachvollziehbar. Auf die Frage nach der Essenz von „Silent Echoes“ denkt Tom lange nach. Dann breitet er langsam die Arme aus, Handflächen zum Betrachter, den Blick unverwandt geradeaus gerichtet. Ein gespenstischer Messias? „Nein, aber es war sehr symmetrisch!“, sagt er und nickt verbindlich.

„Silent Echoes" von Füsun Köksal

Füsun Köksals Stück hat auf jeden Fall Kopfkino-Qualitäten: „Ein abgebrannter Regenwald. Und irgendwann kam dann noch ein Bulldozer dazu!“, erklärt Julia Sandner. Der 38-jährigen Jurorin ist wichtig, ihre Fantasie beim Hören von Musik spielen zu lassen. Julia arbeitet bei der Konrad Adenauer-Stiftung, betreut dort Austausch- und Förderprogramme. Seit sie aus der Oberpfalz nach Berlin gezogen ist, verfolgt sie das Young Euro Classic-Festival, ist selbst Mitglied im Freundeskreis. Die Begeisterung für Musik hat sie schon früh gelernt. „Das komplette Paket“, erklärt sie, „musikalische Früherziehung, Geige, Querflöte.“ Seit dem Abitur am musischen Max-Reger-Gymnasium in Amberg, ist sie zur Zuhörerin mutiert, zieht von Jam-Sessions zu Konzerten. „Der erste Eindruck ist für mich wichtig: Spricht mich das Stück emotional an? Das heißt nicht, dass es mir gefallen muss! Aber es muss mich bewegen.“ Außerdem, findet sie, kommt es stark darauf an, was ein Orchester aus der Komposition macht. „Ich würde gerne in die Komponisten reingucken, wenn sie da sitzen und ihre Werke hören – was sie dabei denken, ob sie sich wiederfinden.“

Julia Sandner teilt direkt nach dem Konzert ihre Gedanken zu João Godinhos Stück „Alcance / Reach“



Julia hört Musik vor allem live in klassischen Konzerten und bei lateinamerikanischen Tanzabenden. „Man bewertet Musik doch immer, selbst wenn sie nebenbei im Radio läuft. Deshalb geh ich da auch ganz gelassen ran“, erzählt sie. „Als ich mich über João Godinhos Neukomposition für Musiker mit Behinderung informiert habe, dachte ich ganz kurz an einen Konflikt durch den moralischen Bonus. Aber ich habe mir vorgenommen, die Musik davon zu trennen.“ Wie Tom traut man auch Julia zu, zu formulieren, was genau in welchem Teil eines Stückes ihr auffällt und weshalb. Trotzdem kommt sie mit ihrem eigenen Urteil dem Bild vom „musikalisch interessierten Laien“, wie Young Euro Classic seine Juroren beschreibt, deutlich näher als Tom Reichelt. Nach dem Konzert scheint sie den Klängen noch gedanklich nachzuhängen, schwärmt erst lange vom tollen Abend. Das eben Gehörte zu sezieren, scheint ihr fremd. Und damit sei sie nicht allein in der Jury, versichert sie. Das Laien-Image der Jury erweist sich als stichhaltig. Wer den Komponistenpreis mit nach Hause nehmen darf, wird am Montag den 6.8., bekannt gegeben. Sicher ist, dass der oder die Preisträger*in neben den 5.000 Euro auch eine Gewissheit bekommt: Menschen, die zeitgenössische Musik genießen, müssen nicht immer aus dem Elfenbeinturm stammen. Wenn neue Werke in Konzerten selbstbewusst Seite an Seite mit dem etablierten Kanon stehen, wenn sie von großartigen Orchestern präsentiert werden, finden sie immer neue, ganz unterschiedliche Fans.

„Alcance / Reach“ von João Godinho

© privat
© MUTESOUVENIR / Kai Bienert


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