Von Jesper Klein, 16.07.2019

Horizonterweiterung

Der amerikanische Cembalist Jory Vinikour spielt fast gänzlich vergessene Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts auf CD ein. Eine faszinierende Rarität, die durchaus Kopfschmerzen bereiten kann.

Es ist das Schicksal vieler technischer Errungenschaften: An einem bestimmten Punkt in der Geschichte sind sie einfach nicht mehr angesagt, sie werden im stetigen Fortschritt überflüssig. Das Cembalo traf es nach seiner Blütezeit im Barock gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Schuld war das Hammerklavier 51 mit seinen schier unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Kaum ein Komponist schrieb noch Musik für das im Klang viel eingeschränktere Cembalo. Warum auch?

Glücklicherweise sorgte Wanda Landowska, die Pionierin des modernen Cembalos, Anfang des 20. Jahrhunderts für die Renaissance des „Eierschneiders“. Mittels Metallrahmen motzte sie den Sound auf. Heute hat sich jedoch das historische Instrument durchgesetzt, ob in der Neuen Musik 107 oder für die historisch-informierte Aufführungspraxis 122 . Die Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts hingegen sind fast gänzlich vergessen.

  1. Hammer und Klavier. Das klingt nach keiner guten Mischung. Doch die mit Stoff bespannten Hämmerchen, die hier die Saiten anschlagen, richten keinen Schaden an, sondern sorgen für einen besonderen, gedämpften Klang. Nach 1800 aber wurde dieses sanfte Tasteninstrument von seinem lauten Bruder verdrängt: dem modernen Klavier. (AV)

  2. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)

  3. Darf man Bach auf dem Klavier spielen, obwohl es das Instrument im Barock noch nicht gab? Geht Haydn nur bei Kerzenschein? Der Streit um eine historisch korrekte Aufführungsweise oder -praxis begann schon bei Mendelssohn-Bartholdy, und noch heute wird geforscht, probiert und diskutiert, wie man auf historischen Instrumenten oder zumindest „historisch informiert“ spielt. (AJ)

Ausflug in ein entlegenes Repertoire

Der amerikanische Cembalist Jory Vinikour hat nun vier davon auf CD eingespielt – auf dem Nachbau eines historischen Instruments. Walter Leigh, Ned Rorem und Viktor Kalabis sind wohl selbst repertoirekundigen Musikkennern kaum ein Begriff, Michael Nyman ist immerhin über seine Filmmusik bekannt. Vinikour baut in dieses ziemlich entlegene Repertoire eine geschickte dramaturgische Brücke. Er fängt ganz harmlos an, ehe sich der Nerd-Faktor steigert.



Walter Leighs kleines Konzert aus dem Jahr 1934 orientiert sich mit seinen drei kurzen Sätzchen noch an der barocken Tradition und klingt nahezu poetisch. Das Chicago Philharmonic unter der Leitung von Scott Speck agiert im Schlusssatz cool und bringt die Energie dieser Musik gut rüber. Nach diesem moderaten Vorspiel geht es ans Eingemachte: Ned Rorems Concertino da Camera wurde zwar bereits 1946 komponiert, war aber lange verschollen. Erst 1995 wurde es uraufgeführt. Merkwürdigerweise ist Vinikour überhaupt der erste, der es aufnimmt.

Schwere Kost

Viktor Kalabisʼ atonales 239 Cembalokonzert ist die logische Fortsetzung dieses anspruchsvollen Programms, überrascht mit interessanten Effekten, etwa den langen, choralartigen Tönen im langsamen Satz, für die das Cembalo mit seinem schnell verklingenden Ton eigentlich nicht gemacht ist. Trotz dieses lyrischen Gegengewichts gilt: Diese zwei ungewöhnlichen Konzerte sind schwere Kost. Der unverwechselbare Cembalosound kann in der Kombination mit den schwer verständlichen musikalischen Strukturen zeitweise durchaus Kopfschmerzen bereiten.

  1. Hier ist man verloren. Feste Tonarten bieten in der atonalen Musik keine Orientierung mehr. Stattdessen schwimmt man in einem Meer an chromatischen Tönen, die nach ihren ganz eigenen Regeln kombiniert werden. Wer hat´s erfunden? Arnold Schönberg (auch wenn er es nicht zugeben wollte). Und die Neue Musik hat die Tonalität infolge dann endgültig verdammt. (AV)

Diese 75 Minuten erweitern den musikalischen Horizont.

Das Highlight der CD ist Michael Nymans ungemein vielfältiges Konzert für verstärktes Cembalo. Nach der Anarchie zu Beginn des ersten Satzes klingen die frischen, gefälligen Melodien des zweiten nahezu trügerisch. Im weiteren Verlauf treffen filmmusikalische Klänge auf erbarmungslos gehämmerte Tonteppiche. Die letzte Nummer der CD ruft die Minimal Music (ein von Nyman geprägter Terminus) von Philip Glass ins Gedächtnis. Hier wird die Gleichförmigkeit des Cembaloklangs zur Stärke. Kein Zweifel: Zwar braucht es etwas Durchhaltevermögen, aber diese 75 Minuten erweitern den musikalischen Horizont.


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Walter Leigh, Ned Rorem, Viktor Kalabis, Michael Nyman

20th Century Harpsichord Concertos

Jory Vinikour, Chicago Philharmonic, Scott Speck

Cedille Records/Naxos

© Sven Graeme/flickr.com/CC BY 2.0
© Kachel: Nuccio di Nuzzo


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