Von Konrad Bott, 29.11.2018

The Girl Next Door

Eine zierliche Chinesin spielt Rachmaninow – soweit nichts Aufregendes. Denkste! Claire Huangci stellt mit ihrem Spiel ganz beiläufig unsere abgestumpfte Wahrnehmung infrage ...

Der alte Mann blickt misstrauisch von seinem Buch auf, als ich in sein Blickfeld trete. Vor der Lagerhalle im Berliner Nordosten heften sich die letzten Sonnenstrahlen an ihn, seinen Stuhl, die halb geöffnete Tür. „Claire? Jaja, die ist da.“ Logisch – aus dem Türspalt tröpfeln die Klänge einer Scarlatti-Sonate ins Freie, fliegen vorbei an ungelenk gesprühten Graffittis, verlieren sich am Pankeufer. „Einspielzeit ist eh um“, murrt der Alte kaum verständlich, erhebt sich schwerfällig, schlurft durch die Tür, „müssen gucken, wegen der Nachbarn.“ Welche Nachbarn das sein sollen, keine Ahnung: Ein Café, weitere Industrie-Baracken, die Fische in der Panke – mehr ist nicht zu sehen. Trotzdem nicke ich höflich, trete ein.

„Ich war nie ein Wunderkind oder sowas.“

Claire Huangci

Der „Pianosalon Christophori“ entpuppt sich als skurriles Ambiente: eine Klavierwerkstatt, improvisatorisch zum Konzertsaal umfunktioniert. Überall liegt, steht, hängt Werkzeug. Unter der Decke, abenteuerlich auf einem dünnen Vorsprung aufgereiht, Pedalkästen und Notenpulte von Flügeln mehrerer Jahrhunderte. Dazwischen Kabel, Schalter, einzelne Lampen, deren Lichtkegel mit Kupferfolie abgeschirmt werden. Am Kopfende der Halle: ein Pressspahn-Plateau. Dort sitzt sie am Bösendorfer-Flügel, Claire Huangci, und scheint die Eindringlinge gar nicht wahrzunehmen.
Nach einem gedämpften Wortwechsel mit dem Türhüter hoppst sie von der Bühne, tritt mir entgegen. Auch wenn sie mit der schwarzen Leggins und der übergroßen lila Kuscheljacke so wirkt, als hätte sie sich gerade vom Sofa geschält, strahlt die kleine Amerikanerin eine unbeugsame Energie aus, etwas Zupackendes. Jeder Unwissende würde sie wohl für eine hier angestellte Klavierbauerin halten.

„Das ist mir auch ehrlich gesagt wirklich wichtig“, verkündet Claire einige Minuten später, als wir uns im benachbarten Café neben den gusseisernen Ofen gesetzt haben, und nimmt ohne Hast einen Schluck ihrer Coke, „dass ich schon immer ganz normal gewesen bin, kein Wunderkind oder sowas.“ Tatsächlich bedeutete das Klavierspiel für sie in jungen Jahren eher eine Pflicht als eine Berufung. Nachdem man sich erstmal technisch freigeschwommen hat, kommt aber von ganz allein der Punkt, an dem man sich selbst beim Üben gerne zuhört und den Ehrgeiz entwickelt, tatsächlich zu interpretieren.

„Irgendwann während meiner Schulzeit bin ich dann doch zum Klavier-Nerd mutiert, wurde deswegen auch ein bisschen ausgegrenzt“, lächelt sie etwas schief und streift sich eine Haarsträhne hinter die rundliche Brille, „letztendlich hab ich dann eine ganz gute Balance zwischen dem disziplinierten, durchgetakteten Lebensstil meiner chinesischen Eltern und der großspurigen amerikanischen Lässigkeit gefunden.“ Eine Erkenntnis, die sich vor allem in ihrem eigensinnigen Spiel wiederfindet.



Man spürt die Neigung zur Perfektion, zur Demonstration überlegener Fingerfertigkeit, keine Frage. Trotzdem gelingen ihr mit aberwitzigen Phrasierungen und scherzhaften Kehrtwenden große Gesten, die selbst auf die vermeintlich totgehörten Rachmaninow-Préludes ein neues Licht werfen. Dieser zutiefst amerikanische Pioniergeist funktioniert auf der Bühne viel besser als auf der CD, die im Vorfeld eher Misstrauen als Begeisterung bei mir geweckt hatte. „Für mich stellt sich diese Frage nicht, ob ein Stück schon oft genug aufgenommen wurde. Ich persönlich halte es für wichtig, einen möglichst umfassenden Blick auf die Musik eines bestimmten Komponisten zu werfen. Das hab ich mit Scarlatti-Sonaten gemacht und jetzt wieder mit Rachmaninow. Es war mir wichtig, nicht den Virtuosen Rachmaninow, sondern den empfindsamen Denker abzubilden.“

„Hör dir das Stück, das du spielen willst, lieber nicht an!“

Claire Huangci

Wie man es schafft, als aufstrebende Pianistin im Wirrwar der Idole, im Wettkampf mit Hunderten anderer junger Talente ihren eigenen Stil zu entwickeln, will ich von ihr wissen. „Nicht immer nur Klassik hören, vor allem nicht nur klassische Klaviermusik. Und schon gar nicht das Stück, das man spielen möchte“, dann lacht sie zum ersten Mal offen an diesem Abend. „Wenn es natürlich Tschaikowskis Klavierkonzert ist, hast du Pech gehabt!“ Den zweiten Schritt nicht vor dem ersten machen. Sich mit der Wirkung des Stücks auf sich selbst beschäftigen, nicht mit der Frage: Wie komme ich beim Publikum an? Claire starrt einen Moment mit gerunzelter Stirn auf ihr Glas. „Ich habe mich noch nie damit beschäftigt, ein Image zu entwickeln. Ich möchte auf keinen Fall etwas vorspielen, was ich nicht bin. Manchmal hab ich das Gefühl, dass das schon was Besonderes ist.“

Bei diesen Worten muss ich an das Cover ihrer ersten Solo-CD „The Sleeping Beauty“ denken. Darauf ist die resolute, selbstbewusste junge Frau, die mich gerade mit fast stechendem Blick taxiert, als Geisha zwischen Blütenknospen abgebildet, die mandelförmigen braunen Augen scheu nach oben dem Betrachter zugewandt. „Ach das“, Claire schnippt gegen ihr Glas, lehnt sich auf der Bank zurück und seufzt, „da hab ich schon viele Meinungen zu gehört. Meine Idee war das nicht, aber ich fand es nicht verkehrt, weil es die elfenhaften Stücke auf der CD ganz gut widerspiegelt. Ob ich das noch einmal machen würde – ich denke nicht.“ Dass ihre Persönlichkeit im starken Kontrast zu ihrer äußeren Erscheinung steht, bekommt sie selbst von unvoreingenommenen Menschen zu hören. „Aber ich finde das überhaupt nicht schlimm! Ich freue mich da einfach drüber. Ich merke ja selbst, jedesmal wenn ich in China bin, dass die chinesische Mentalität etwas extrem Fremdes für mich ist. Ich glaube, länger als einen Monat würde ich gar nicht dort bleiben wollen.“

Der sympathische Pragmatismus der Pianistin beschäftigt mich noch, als ich es mir im Zuschauerraum in der heterogenen Stuhl-Ansammlung, die liebevoll mit roten Sitzpolstern bedacht worden ist, bequem mache. So skeptisch ich beim ersten Hören ihrer Rachmaninow-Aufnahmen war, so heftig trifft Claire mich damit von der kleinen Bühne herab. Geschmackvoll bricht sie mit erwarteten Dynamiken, hemmungslos tritt sie das Gaspedal durch, um an anderer Stelle mit einem Augenzwinkern wieder einen 180-Grad-Drift hin zu einem lyrischen Glöckchenklang zu vollführen.
Der alte Bösendorfer schnauft und ächzt unter ihren Hieben und Streicheleinheiten. Beethovens Sonate op. 101 erscheint in Claires Interpretation ganz deutlich als das, was sie ist: ein Bindeglied zwischen klassischer Präzision und visionärem Spätwerk. Eine Klang gewordene Hybris mit gespenstischem Ingrimm. Bei den Scarlatti-Sonaten bleibt die ein oder andere absolut wahnwitzige Verzierung leider in der Mechanik des Flügels stecken. Da muss der kritische Hörer dann doch noch einmal zu ihrer Aufnahme greifen, um sich zu versichern, dass die Pianistin könnte, wenn das Instrument wollte. Die Stimmführung dagegen ist in all ihren gewitzten Details fabelhaft hörbar. Claire Huangci ist ein wundervolles Paket: Technikerin, Poetin, Outlaw und Mädchen von Nebenan. Ganz normal eben.




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Sergei Rachmaninow

Rachmaninov Préludes

Claire Huangci

Berlin Classics

© Mateusz Zahora
© Gregor Hohenberg


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