Von Carsten Hinrichs, 05.01.2019

Immer im Kreis

Das Wiener Neujahrskonzert ist ein weltweiter Erfolg, geradezu ein Synonym für das klassische Konzert. Doch während die Musik auch aktuell und spritzig interpretiert sein kann, sind die gezeigten Bilder einfach nur von gestern.

Neujahrstag, beim Frühstück. Und wie jedes Jahr schalte ich nebenbei im Radio, ab der Pause auf den Fernseher wechselnd, das Wiener Neujahrskonzert ein. Nochmal als Debütanten am Pult erlebt man dabei Christian Thielemann, was doppelt sinnfällig ist: Der Imagefilm in der Pause feiert den 150. Geburtstag der Wiener Staatsoper am Ring, und ein Opernprofi dirigiert das Konzert.
In den bisherigen Jahren hat sich der perlende Esprit von Galopp, Polka und Walzer als Hintergrund prima in meine Neujahrsstimmung gefügt, aber diesmal beginnt mich etwas zu stören, ich schmecke nicht Sekt, sondern schale Kopfschmerzbrause.

Die Musik ist es jedenfalls nicht: Was die Komponisten des Kapellunternehmens Strauß und Co. im Fin-de-siècle geschaffen haben, ist an Einfallsreichtum, Farbigkeit und rhythmischer Finesse nicht zu überbieten. Dazu wird sie interpretiert von einem der besten Orchester der Welt, und dessen Mitgliedern liegen die homöopathischen, nicht schriftlich fixierbaren Unwuchten im Blut, die diese Musik erst zum Drehen und Hüpfen bringen. So ist dieses Konzert ein Höhepunkt nicht allein der Unterhaltungsmusik, sondern der Klassik an sich. Nicht umsonst wird die Aufnahme in Rekordzeit auf CD herausgebracht, schauen sich alljährlich über 50 Millionen Menschen aus über 90 Ländern die Fernsehübertragung an und nur ein paar happy few schaffen es in den Saal selbst.

Wieso gerät die Inszenierung von Klassik im Moment ihrer höchsten Entfaltung immer gleich so gestrig?

Dieses Konzert ist geradezu das Synonym für klassische Musik, und was präsentiert es? Bei diesem Gedanken verhaken sich mein Blicke im an sich so gewinnenden, goldglänzenden Dekor des Saales der Musikfreunde. Ständig hängt irgendwo seitlich, bei Kameraschwenks auch gerne mal im Vordergrund, der Blumenschmuck der Wiener Stadtgärten ins Bild, in schönstem Anneliese-Rothenberger-Rosé — sah der letztes Mal nicht auch frischer, frühlingshafter aus? Statt Floristenprunk gibt es diesmal nur Blumenladenästhetik, darin vor allem gesichtslose Gerbera. Davor sitzt die Polit- und Kulturprominenz, gemischt mit zahlreichen Klassikfans aus aller Welt. Darunter auch wieder besonders viele Gäste aus Japan, wo die Inszenierung klassischer Musikkultur nach alter Schule nach wie vor einen besonders hohen Stellenwert genießt. Ich sehe auch die verhältnismäßig wenigen Frauen in den Reihen der Musiker, und in den zugespielten Filmchen durcheilen junge Balletttänzer, im neckischen Versteckspiel zwischen Säulen und Fenstern, die ehrwürdige Staatsoper im Sprung, ein Rausch aus Rüsch.

Woher kommt das, dass die Inszenierung der Klassik, gerade im Moment ihrer höchsten Entfaltung, zugleich schon so von gestern ist? Die Musik ist dabei noch die jüngste Zutat, jünger sowohl als der Saal als auch das Orchester; die Gesten, mehr noch das damit transportierte Geschlechterbild der Tanzeinlagen sind schrecklich süßlich und veraltet. Sicher: Hier werden vor allem Erwartungen erfüllt, fragt sich nur – die der Zuschauer oder eher von Orchester und Sender? Keine Spur ist mehr geblieben vom erotischen Schillern des körperkontaktfreudigen Tanzes, der 1758 deshalb sogar verboten wurde, bevor er unter Kaiser Joseph II. die Redoutensäle eroberte. Oder vom tagesaktuellen Anspruch der Titel-Anspielungen neuer Straußscher Walzer, etwa bei den „Märchen aus dem Orient“ für den Besuch eines Sultans, der „Electro-magnetischen Polka“ der Ingenieursstudenten oder dem „Leitartikel“-Walzer des Presseclubs. Diese Musik ist eben nicht mehr Teil der gegenwärtigen Unterhaltungskultur. Statt darauf zu tanzen, sitzt das Publikum inzwischen in festlicher Garderobe wagnerwürdig stille.

Das reguläre Konzertwesen unterm Jahr, auch in Wien!, ist davon schon weit entfernt — und aus Notwendigkeit experimentell geworden. Es gibt Konzerte im Wandeln und im Liegen, für Babys, am Vorabend, mit Film- und Gamesscores, Kammermusik im Dialog mit den Musikern und den Komponisten. Natürlich soll Tradition immer das manifestieren, was als Kernbestand erkannt und wertgeschätzt wird. Aber wenn sie dabei die Schoten zur restlichen Musikwelt dicht macht, befindet sie sich auch schnell auf Tauchstation.

Mein Genuss bekommt einen Knacks, eine schuldbewusste Ambivalenz zwischen der Musik, die mir gefällt, und der Inszenierung, die mir weit mehr denn je als seltsam unstimmig ins Auge springt. Denn dieses Konzert will uns zum Jahresauftakt zuflüstern: „Ruhe bewahren, es wird sich schon nichts Wesentliches ändern! Solange bei uns die Donau blaut und der Walzer sich dreht, bleibt alles beim Alten.“ Es gibt sicher viele, die nicht nur die Musik genießen, sondern auch diese Botschaft gerne hören, sich im Gold der Habsburger-Zeit und stilisiertem Flirt in nie gewesene Zeiten träumen wollen. Das Neujahrskonzert mag seine Berechtigung haben: als Gesellschaftsereignis, als Einnahmequelle, als Tourismuswerbung für Wien und Österreich. Doch weder für die Zukunft der Klassik noch gar der Gesellschaft gehen von solch einem Großereignis des Gestrigen Impulse aus.

Vielleicht fällt mir das auch deshalb erst jetzt so ins Auge: Inzwischen herrschen Zeiten, die uns nicht nur zum Jahreswechsel, sondern jeden Tag daran erinnern, dass alles, was wir festzuhalten versuchen, in unseren Händen zu Asche zerfällt. Höchste Zeit, dass sich was ändert. Zum Glück.

© Terry Linke / Sony Classical


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