Von Anna Vogt, 06.11.2018

Barock-Parcours

Wie transportiert man die Essenz der Alten Musik ins 21. Jahrhundert? Und wie inszeniert man sie auf Bühne und YouTube? Ein Gespräch mit Ottavio Dantone, dem musikalischen Leiter der italienischen Accademia Bizantina.

„Corelli, Torelli, Jommelli … Porporelli“: Ottavio Dantone scherzt auf typisch italienische Art mit seinen Musikern der Accademia Bizantina. Gerade gehen sie sicherheitshalber die Reihenfolge für das Konzert im niedersächsischen Himmelpforten am Abend zwei Mal durch, legen die Noten zurecht. Schließlich ähneln sich die Komponistennamen im italienischen Barock gefährlich, da kommt schnell was durcheinander. Zwischen Probe und Konzert sitzt der Künstlerische Leiter der Accademia dann beim Interview entspannt auf einer Bank neben der kleinen Marienkirche und raucht eine Zigarette. Nebenan welken im Kräutergärtchen vom heißen Sommer verdorrte Melisse und Rosmarin vor sich hin. Ein Ambiente wie aus einer anderen Zeit. In Deutschland ist das italienische Spezialensemble eher selten zu hören (das nächste Mal am 8. November in der Kölner Philharmonie und am 9. November in der Hamburger Laeiszhalle). Das Ensemble aus freien Musikern hat sich nach den berühmten byzantinischen Mosaiken in Ravennas Kirchen benannt. Und mit dem Begriff Accademia stellt man zugleich klar: Es handelt sich auch um eine Institution, die forscht und lernt und Wissen weitergibt. Eine Vermittlerin zwischen vorvorgestern und heute.

niusic: Im heutigen Konzert spielt die Accademia nur mit sieben Leuten, inklusive Ihnen. Wie geht das: gleichzeitig mitspielen und das Ensemble leiten?

Ottavio Dantone: Wir verstehen uns immer als eine Art großes Quartett, also als Kammermusik. Auch wenn wir in größerer Besetzung spielen. Wenn ich Opern leite, dirigiere ich mit den Händen. Aber sonst leite ich, wie heute, gern vom Cembalo oder der Orgel aus. Man atmet dadurch zusammen, teilt auch rhythmisch einen gemeinsamen Puls.

niusic: Sie sind der Chef und zugleich Teil des Ganzen. Gibt’s da keine Hierarchie-Probleme?

Dantone: Als Direktor muss ich natürlich Entscheidungen treffen. Ich bin der, der mehr als die anderen die Partituren studiert und daher eine klarere Idee davon hat, was in der Musik passiert. Aber es ist viel besser, wenn wir so lange miteinander diskutieren und ich die anderen mit Argumenten überzeugen kann, bis alle die gleiche Idee davon haben, wie wir etwas spielen wollen.

niusic: Welche Argumente sind denn das zum Beispiel?

Dantone: In der barocken Musik scheint eigentlich wenig aufgeschrieben zu sein. Aber in Wirklichkeit steht da alles, wenn man die Regeln der Rhetorik kennt: spezielle Melodiebögen, spezielle Akkorde, Bewegungen … Das alles bedeutete etwas. Die gleiche Figur kann aber auch verschiedene Dinge bedeuten, dann ist es einfach wichtig, sich zu entscheiden, auch für ein Gefühl: Gibt es hier eine Unterbrechung, eine Überraschung, eine Spannung? Es ist wichtig, diese Gefühle beim Spielen gemeinsam zu durchleben.

niusic: Sind die Gefühle der Barockzeit denn noch die gleichen wie die der heutigen Zeit?

Dantone: Ja, die haben sich nicht verändert. Es gibt daher auch keine Notwendigkeit, diese Musik beim Spielen zu „modernisieren“. Die Barockmusik hat ihre ganz eigene Wahrheit, die auch heute noch stark ist. In einer modernen Interpretation kann man diese Wahrheit verlieren, vor allem, wenn man Gefühle miteinander vermischt. Als erstes muss man herausfinden, was der Komponist überhaupt wollte. Danach kann man sich auch davon loslösen. Aber wenn man in einem Moment des Glücks Trauer ausdrückt oder andersherum – dann riskiert man, die Kraft der wahren, eigentlich intendierten Gefühle zu verlieren.

niusic: Also sind Sie auch kein Freund von modernen Instrumenten?

Dantone: Mit alten Instrumenten „liest“ man die Alte Musik einfach anders. Die Musik wurde für diese Instrumente geschrieben: Natürlich funktioniert sie auf ihnen besser. Es ist viel einfacher, mit einem Barockbogen Klänge und Artikulationen zu spielen, die bestimmte Gefühle ausdrücken sollen. Aber Barockmusik ist nicht nur alte Instrumente und basta. (lacht) Man muss diese Instrumente auch richtig verwenden. Ich habe auch mit modernen Orchestern sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn sie denn – und das ist wichtig – auf diese Art Musik machen wollen. Die Sprache der Barockmusik ist einfach eine komplett andere als die des 18. oder 19. Jahrhunderts.



niusic: Vivaldi hat Dutzende Opern geschrieben. Sind die es wirklich alle wert, wiederentdeckt zu werden, wie das beim Label Naïve in einem großen Aufnahmeprojekt gerade passiert?

Dantone: Bei der italienischen Barockmusik hängt es oft davon ab, wie man sie spielt, um sie als Meisterwerk zu zeigen. Da ist fast nichts zufällig. Zu Lebzeiten hatte Vivaldi mit seiner Musik einen enormen Erfolg. Heute kann man an diesen Erfolg nur anknüpfen, wenn man diese alten Bedingungen wieder aufleben lässt.

niusic: Und das Sujet, z.B. von „Il Giustino“? Was sagt uns das heute noch?

Dantone: Die Werte in den meisten Opern sind Freundschaft, Einigkeit, Liebe, Verrat – das sind bis hin zu Verdi die Grundthemen einer Oper. Es geht nicht um eine konkrete historische Situation, auch im Barock wurden ja die historischen Stoffe schon aktualisiert und angepasst an das, was die Leute interessierte: also die amourösen Beziehungen zwischen zwei oder mehr Personen, die Gefühle der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit bzw. des Verrats. Im „Giustino“ zum Beispiel merken zwei vermeintliche Feinde, dass sie eigentlich Brüder sind. Es geht um Vertrauen und Einigkeit.

niusic: Man hat schon den Eindruck, dass Barock-Opern oft ganz schöne Längen haben …

Dantone: Zu Vivaldis Zeit ging das Publikum mit einer anderen Erwartung ins Theater als heute, es konzentrierte sich auf einzelne Highlights wie Arien. Bei der Premiere war immer mehr Aufmerksamkeit da, aber danach wussten die Leute, was passiert und die sind zum Teil 15 Mal in die gleiche Oper gegangen als Unterhaltung, die hatten ja keinen Fernseher daheim. (lacht) Wichtig waren die Primadonnen oder die Kastraten oder besonders schwierige Orchesterstellen, dann waren kurz alle still und haben danach wieder zu quatschen angefangen. Es war einfach ein soziales Event; man braucht auch solche Momente, in denen wenig passiert, damit die Spannung funktioniert, damit es auch Momente der Klimax und Auflösung geben kann und nicht alles zu dicht und intensiv ist.

„Man kann Musik und Inszenierung nicht trennen und sie einfach zufällig zusammenpacken.“

Ottavio Dantone

niusic: Wie stehen Sie zu modernen Inszenierungen?

Dantone: Ich habe nichts dagegen, Barockopern in einer anderen Epoche zu zeigen. Aber man kann Musik und Inszenierung nicht trennen und sie einfach zufällig zusammenpacken. Bei der Inszenierung einer Vivaldi-Oper zum Beispiel muss man die besonderen Rhythmen der Musik berücksichtigen und darf nicht die Beziehungen zwischen den Figuren verändern, sonst wird es eine Katastrophe, weil man nichts mehr versteht. Viele Regisseure haben die Intention, psychologische Aspekte der Figuren zu ändern, sie wollen die Situation ihrem Konzept anpassen. Aber als Regisseur muss man von der Musik ausgehen und nicht von sich selbst, da beginnen sonst die Probleme für mich.

niusic: Die Accademia hat auch eine Reihe von YouTube-Clips veröffentlicht, die Alte Musik in einem heutigen Setting inszeniert. Was ist die Message dahinter?

Dantone: Das Video haben wir als moderne Form gewählt, um die barocke Musik ins Heute zu übersetzen. Wir wollen damit nicht neue Hörer gewinnen: Wer gern Rockmusik hört, der soll Rockmusik hören. Aber ich glaube, das ist ein guter Weg, um Leute subtil aufmerksam auf diese Art von Musik zu machen, denn sie bleibt dabei unangetastet, trifft aber auf eine Welt der Bilder, auf unterschiedliche Ästhetiken der Moderne …

niusic: In einem Video sind Parcours-Kletterer zu sehen, in einem anderen merkwürdig stilisierte Tanzbewegungen. Wie hängt das mit der konkreten Musik zusammen?

Dantone: Pier Paolo Pasolini hat über Bach verschiedene Filme gemacht, wo die Musik von Bach eigentlich keine Rolle spielt, aber dann doch am Ende als die einzige und perfekte Musik für den Film scheint. An dieser Schnittstelle zwischen sichtbarer und hörbarer Kunst passieren manchmal total spannende und unerklärliche Dinge.



niusic: Sind Bilder auch für die Probenarbeit der Accademia wichtig?

Dantone: Natürlich! Ich sage zum Beispiel meinen Musikern manchmal, sie sollen sich bei einer Stelle vorstellen, auf dem Gipfel eines Berges zu sein, oder sich einen klaren Himmel oder das Paradies vorstellen an einer sanften, heiteren Stelle oder das wir in einer Höhle sind. Auch die Farben sind sehr wichtig für eine gemeinsame Idee von der Musik.

niusic: Die Accademia Bizantina hat ihren Sitz in Italien. Wie geht’s eigentlich der Alten Musik im Moment dort?

Dantone: (Denkt nach) Die Situation ist leider nicht gut in Italien. Wenn es ökonomische Probleme gibt, werden dort als allererstes die Ausgaben für die Kultur gestrichen. Die Theater können ohne Geld nichts mehr machen; die Leute bleiben dann zu Hause und schauen Fernsehen. So wird die Kultur ruiniert. Das ist paradox in einem Land, in dem die Musik zum Teil ja ihren Ursprung hat.

niusic: Was macht das mit den Menschen dort?

Dantone: Durch den Ruin der Kultur ändern sich auch die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen, das ist gefährlich. Ich sage nicht, dass es keine Straftäter mehr gäbe, wenn alle Bach hören würden. Aber es verändert die Menschen psychologisch, solche Musik zu hören; dadurch werden die Persönlichkeit, das Wissen, die Werte ausgeprägt. Eine gesunde Gesellschaft braucht die Kultur und unterstützt ihrerseits die Kultur.

„Eine gesunde Gesellschaft braucht die Kultur und unterstützt ihrerseits die Kultur.“

Ottavio Dantone

niusic: Warum hat die italienische Regierung daran so wenig Interesse?

Dantone: Berlusconi hat 20 Jahre die Kultur boykottiert, und das merkt man heute. Für die Berlusconi-Regierung war es gut, wenn die Leute möglichst dumm waren, denn dann ließen sie sich besser manipulieren und kontrollieren. Die Regierung muss wieder verstehen, dass es mit Kultur allen besser geht und dafür Ressourcen aufbringen.

niusic: Was macht die Accademia aus der Situation?

Dantone: Wir spielen in kleinen, wunderschönen Theatern, wie in Reggio Emilia, Ravenna oder Pavia und machen dort Opernaufführungen. Die Ergebnisse sind phänomenal. Das Publikum hat wieder gemerkt, dass diese Musik etwas mit ihm zu tun hat, dass sie der Ursprung der italienischen Gesellschaft ist.

Erscheint am 16. November:


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Antonio Vivaldi

Il Giustino

Delphine Galou, Accademia Bizantina, Ottavio Dantone u.a.

Naïve

© Giulia Papetti
© Giulia Papetti


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