Von Carsten Hinrichs, 07.08.2018

Grüner wird`s nicht

Passend zum Supersommer hat der Tropical Style mit Dschungelblättern und üppigen Blüten die letzten Schaufenster der Stadt erobert. Wie das in Musik übersetzt klingen könnte, verrät Euch unsere eiskalt recherchierte Stilberatung.

Große, nassglänzende Blätter, von Löchern durchbrochen, dazu exotische Blüten in Rotorange oder Pink: Der Tropical Style, der sich schon vor zwei Jahren leise ankündigte, hat inzwischen die Schaufenster der Stadt erobert. Man sagt zwar, wenn eine Mode bei den Discountern angekommen ist, hat sie ihren Zenit überschritten, und tatsächlich wurden schon dschungelblattgemusterte Tischdecken und Duschvorhänge bei ALDI ausfindig gemacht. Aber weil der Sommer so heiß und lang ist, als hätte ihn die Werbeindustrie eigens als Bekräftigung für diese dunkelgrüne Offensive gebucht, wollen auch wir uns damit beschäftigen – musikalisch, versteht sich!

Eine aufmerksame Fotosafari durch München, zwischen Flughafen und Marienplatz, lässt jeden Zweifel verstummen: Grüner wird’s nicht! Aber was steckt hinter dem Tropen-Dekor? Schafft der Trend zur Urwüchsigkeit all den Männern, die wieder Mut zum Vollbart gefunden haben, den passenden Kontext? Oder ist es die Sehnsucht des Großstädters nach exotischen Reisezielen, die als Inspiration eine Pflanzenpracht braucht, die an Bangkok statt Bamberg erinnert?

Wer ein bisschen tiefer in der Stilgeschichte blättert, wird herausfinden, dass die Ikone des Tropical Style, das „Fensterblatt“, botanisch: Monstera deliciosa, von Tapeten über Kissen bis hin zu T-Shirts hundertausendfach vervielfältigt, schon einmal Trendpflanze in deutschen Wohnzimmern war: in den späten Sechzigern und Siebzigern. Damals kapitulierte ihr exotisches Flair langfristig vor Kunstleder-Sitzecke und Rustikal-Schrankwand. Heute fügt sie sich ganz gut in das Raumgefühl einer jungen öko-urbanen Generation und verleiht sogar – neben Kakteen und Sukkulenten unter Glassturz, einst Inbegriff spießigster Fensterbrettgärtnerei – dem aktuellen Trend zum Wohnzimmergrün mächtig Antrieb.

Was uns hier umtreibt, rein zum Zeitvertreib bei brütender Mittagshitze, ist die Frage, wie man diesen „Tropical Style“ in Musik übersetzen könnte. Gar nicht so einfach, denn den meisten europäischen Komponisten des 16. bis 19. Jahrhunderts galten die damaligen Kolonien in Mittelamerika, die sich zwischen nördlichem und südlichem Wendekreis (lat. = tropicus) der Sonne befanden, als sehr ungemütliche und unzivilisierte Landstriche, in denen die Krone nicht die Macht hatte, Recht und Ordnung durchzusetzen. So waren es vor allem die Jesuiten-Missionen, die neben dem europäischen Glauben auch den Musikgeschmack importierten. Ihre Gemeinden waren aus zahlreichen Ethnien zusammengewürfelt, denn die Conquistadoren und eingeschleppte Seuchen hatten die Ureinwohner dahingerafft. Bevölkert wurde die Karibik vor allem mit den zu Tausenden aus Afrika und Südamerika verschleppten Sklaven – die jeweils ihre eigene Kultur und Musiktradition mitbrachten. Das Sanctus aus der im mexikanischen Puebla geschriebenen doppelchörigen Messe „Ego flos campi“ von Juan Gutiérrez de Padilla lässt diesen Völkermix noch erahnen, wenn nach kurzem ruhigem Fluss in lupenreiner Alte-Welt-Vielstimmigkeit der Satz von pfeffrigen Synkopen und Rhythmen der Neuen Welt durchbrochen wird.



Natürlich funktionierte der Kulturtransfer auch umgekehrt, wie die im 18. Jahrhundert aufgeschriebenen, heute sehr populären Tänze für Gitarre von Santiago de Murcia zeigen. In seinen Kostproben finden sich spanische Aneignungen von Tanzrhythmen auch aus Afrika, etwa den stampfenden und von klagenden „blue notes“ gekennzeichneten Cumbées.



Im 19. Jahrhundert beginnt das Interesse der Europäer an einer als malerisch empfundenen Exotik ferner Landstriche zu wachsen. Schon damals dienen sie als Projektionsflächen für die Sehnsucht nach einem zivilisatorisch scheinbar unverdorbenen, von verkniffener Sexualmoral freien Leben – und bis heute kann die Touristik-Industrie von dieser Sehnsucht ganz gut leben. Einer der ersten Klaviervirtuosen, die in der Neuen Welt finanziellen Erfolg hatten, war der in New Orleans aufgewachsene Louis Moreau Gottschalk. Nach seinem Studium in Paris bei Halévy und Berlioz (!) kehrte Gottschalk zurück nach Amerika und konnte es sich leisten, die USA konzertierend in einem eigenen Tournee-Waggon zu bereisen – seinen Klavierstimmer und zwei Flügel immer dabei. Eine Affäre zwang ihn schließlich dazu, nach Brasilien zu fliehen, wo er bereits 40-jährig an Malaria starb. Seine Sinfonie Nr. 1, die dort entstand, trägt den verheißungsvollen Titel „Eine Nacht in den Tropen“ – und hält, was sie verspricht. Der in allen Orchesterfarben entworfenen Schilderung der in feuchter Hitze träge heraufdämmernden Nacht folgt eine schwungvolle „Festa Criolla“.



Dass er das Zeug dazu hatte, sich mit viel Fantasie in vergangene Zeiten zu versenken, bewies Ottorino Respighi bereits bei seinen „Antiche danze ed arie“ oder den breitwandigen Rom-Panoramen seiner Suiten. Wenig bekannt ist, dass er auch drei „Impressione brasiliane“ geschrieben hat. Die erste davon ist wie das Werk Gottschalks der Tropischen Nacht gewidmet. Nicht nur der Tag schmilzt hier dahin – auch Harmonien und Rhythmen zerfließen vor dem Ohr des Hörers. Eine gelungene, suggestive Tondichtung 78 !

  1. Wie hat man im 19. Jahrhundert darüber gestritten, ob Musik ein „Programm“ haben, also etwa eine Geschichte erzählen oder eine Landschaft lautmalerisch nachbilden dürfe. Komponisten wie Berlioz, Liszt und Strauss haben es einfach ausprobiert. Ob ein Hexensabbath, eine Hunnenschlacht oder Till Eulenspiegel: Wie in der Filmmusik bereichern sich in ihren Programmmusiken wilde Stories und klangsatte Musik gegenseitig. (AV)



Unser nächster Titel ist tatsächlich die Frucht eines Sommerurlaubs, nämlich von zwei Wochen, die George Gershwin 1932 in Havanna verbrachte. Die „Cuban Overture“, die er danach berauscht von den mittelamerikanischen Rhythmen und angereichert mit vielen der dort gebräuchlichen Schlagwerkinstrumenten schrieb, ist bis heute ein Knaller in Silvesterprogrammen. Sie bescherte Gershwin außerdem bei ihrer Uraufführung in New York nach eigenen Worten „die aufregendste Nacht, die ich je hatte“. Erfolgreich lenkt der schmissige Duktus davon ab, dass es sich bei der Ouvertüre um ein recht komplex strukturiertes Musikstück handelt, das einem Orchester nicht leicht von der Hand geht. Echter Swing will eben hart erarbeitet sein! Aber Dirigent Wayne Marshall, ein Wanderer zwischen Orgel, Jazz und Sinfonik, hat in unserem Hörbeispiel den Bogen raus.



Nein, mag man noch so lange im klassisch-sinfonischen Kanon suchen: Es gibt einfach nichts, was auf heiße, tropische Tage besser passt, als der Bossa Nova, der sich in den späten 50er Jahren in Brasilien etablierte und zum Soundtrack des Strandlebens an der Copacabana wurde. Als seine Schöpfer gelten heute der Komponist Antônio Carlos Jobim und der damals noch völlig unbekannte komponierende Sänger João Gilberto. Die von ihnen kreierte Mischung aus (zu) langsamem Samba-Rhythmus und Elementen des Cool Jazz entfaltet eine suggestive Wirkung: Scheinbar träge, wie von der Schwüle gelähmt, bewegt sich die Musik auf minimalen Impulsen von Gitarre oder Klavier dahin und gleitet geschmeidig durch jazztypisch ineinander verschmelzende Harmonien. Dennoch besitzt sie durch die Samba einen leichten, coolen Drive. Nicht lange, da wurden Amerikaner wie Stan Getz auf die beiden Brasilianer aufmerksam, flogen nach Rio und begannen, mit ihnen Alben zu produzieren, die sie in den USA promoteten. So gelang auch erst die amerikanische Version von Gilbertos Geniestreich „A Garota de Ipanema“ (Girl of Ipanema) der weltweite Durchbruch. Leider war es nur ein kurzes Sommermärchen in Rio, denn mit dem Militärputsch 1964 verlagerte sich der Bossa Nova ins Exil – wie die meisten seiner einheimischen Interpreten.



Sein Album „Wave“ schuf der in New York verstorbene Antônio Carlos Jobim etwa 1967, da hatte er seinen Stil weiterentwickelt, mit vielen südamerikanischen Rhythmen gekreuzt und sich unter anderem auch die Harmonien und Melodien Claude Debussys näher zu Gemüte geführt. Markenzeichen sind etwa die butterweichen, halligen Posaunen, die sparsam und nur wie von Fern eingesetzten Streicher. Im Vordergrund bleiben jazzige Soloinstrumente: Gitarre, Klavier, manchmal Flöte. Ein Album, das zu kühlen Drinks genossen mehr Wirkung als eine Klimaanlage entfaltet. Oder schon Lust macht auf die nächste tropische Nacht. So darf der Supersommer gerne noch ein paar Wochen andauern.



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© Schnappschüsse diverser Schaufenster und Auslagen: Carsten Hinrichs
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