Der Kuss der Schlange

London. Die Aufklärung eines Doppelmordes im Prostituierten-Viertel von Whitehall führte die Ermittler unerwartet auch zur Lösung eines weiter zurückliegenden Verbrechens auf dem Kontinent. Wie sich herausstellte, waren die beiden ermordet aufgefundenen Frauen, eine Prostituierte und ihre etwas ältere mutmaßliche Verehrerin, seit mehreren Jahren auf der Flucht vor der Justiz, da die jüngere der beiden in einem Prozess schuldig gesprochen worden war, in Berlin ihren damaligen Ehemann, den Chefredakteur einer großen Tageszeitung, im Handgemenge erschossen zu haben. Dieser fiel damit der Waffe zum Opfer, die er eigentlich bei sich führte, um an seiner von zahlreichen Verehrern umschwärmten Frau aus Eifersucht Rache zu nehmen.

Der Journalist führte während dieser Zeit seiner Geliebten wechselnde Partner zu, um trotz der andauernden Beziehung selbst gesellschaftlich unbescholten bleiben zu können.

Wie der Prozess seinerzeit ans Tageslicht brachte, waren die Eheleute schon vor ihrer späteren Hochzeit über lange Zeit in einer ebenso leidenschaftlichen wie destruktiven Affäre miteinander verstrickt. Der Journalist führte während dieser Zeit seiner Geliebten wechselnde Partner zu, um trotz der andauernden Beziehung selbst gesellschaftlich unbescholten bleiben zu können. Zwei dieser Alibi-Partner, ein Arzt und ein Maler, zerbrachen an der Aufdeckung dieser Umstände, der Arzt erlitt einen Herzinfarkt, der Maler erschoss sich aus Verzweiflung. Daraufhin löste der Journalist seine Verlobung und ehelichte die junge Frau selbst, geriet aber durch ihren unvermindert freizügigen Lebenswandel und die unverhohlenen Flirts selbst in seelische Schieflage.
Schon kurze Zeit nach ihrer Verurteilung als Mörderin gelang der jungen Frau die Flucht aus dem Gefängnis, woran sowohl ihre Verehrerin, eine Adelige aus gutem Hause, als auch ihr Stiefsohn, der ihr ebenfalls verfallen gewesen sein soll, mutmaßlich beteiligt waren. Der Weg des Trios führte über Paris nach London, wo die finanzielle Rücklage aufgebraucht und die Frau zum Überleben zur Prostitution gezwungen war. Bei der Wahl ihres letzten Freiers hatte sie allerdings großes Pech – es handelte sich um einen Serienmörder, der seit Wochen ganz London in Angst und Schrecken versetzte.

Eine moralisch freizügige Frau, die durch ihre Verführungskunst reihenweise Männer und auch Frauen um den Verstand bringt und erreicht, dass sie sich völlig für sie ruinieren – das gab es auf der Opernbühne so nur einmal. Nachdem er das zensierte Theaterstück „Lulu“ von Frank Wedekind in einer Privataufführung kennengelernt hatte, arbeitete Alban Berg daran, aus dem Stoff seine zweite Oper zu komponieren. Sie blieb unvollendet und wurde erst nach Bergs überraschend frühem Tod uraufgeführt. Die erste, gegen den Willen der Witwe entstandene Vervollständigung von Friedrich Cerha wurde sogar erst 1979 in Paris auf die Bühne gebracht. Durch die „Lulu“ irrlichtern sowohl die Vergnügungen der Wilden Zwanziger, wie auch die moralischen Erosionen der Weimarer Republik. Alban Berg gelang mit seiner verfeinerten Variante von Schönbergs Zwölftontechnik eine schlüssige Übersetzung des Dramas in die Welt der Oper.

Und das sagt unsere Fachfrau für Recht und Ordnung:
Lulu sorgt gleich im ersten Akt für Aufregung, da erst der Medizinalrat einen Herzinfarkt erleidet, als er Lulu mit dem Maler überrascht, und sich schließlich der Maler erschießt, als er von Lulus Vorleben erfährt. Für beide Tode ist Lulu zwar kausal, aber strafrechtlich nicht verantwortlich. Anders hingegen, als sie Dr. Schön erschießt – hier ist sie wegen Totschlags verantwortlich (§ 212 StGB), weshalb sie auch verurteilt wird.
Lulu gelingt jedoch mithilfe der Gräfin Geschwitz die Flucht aus dem Gefängnis. Die Gräfin macht sich dadurch wegen Gefangenenbefreiung strafbar, § 120 Abs. 1 StGB, wofür ihr eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe droht. Lulu selbst macht sich durch ihren Ausbruch nicht strafbar – die Selbstbefreiung ist straflos.

(Jessica Krüger, Bucerius Law School Hamburg)