Von Marie König, 30.11.2017

Perfekt emotional

Sie singen alles, was ihnen auf die Notenpulte kommt. Nebenher spielen sie Kazoo, schlüpfen in Trollkostüme und hantieren mit Klangröhren. Wie kann es sein, dass beim ChorWerk Ruhr alles – von Renaissance bis Uraufführung – großartig wird? Ein Probenbesuch in Essen.

„Ich könnte mir das stundenlang anhören. Ich flipp’ aus.“ Der Dirigent Florian Helgath mustert seine Sänger mit ernstem Blick. Dahinter schlummert sie, die Begeisterung, und anstatt einfach so herauszubrechen, erscheint sie sehr eindringlich. Ein paar aus dem Chor kichern leise. „Man merkt’s nicht, gell?" Jetzt hat sich ein kleines Schmunzeln auf Helgaths Gesicht geschlichen. Auch das ist ernst gemeint, wie alles, was in dieser Probe passiert. Das ChorWerk Ruhr ist spezialisiert auf verrücktes Repertoire, bei dem die Ausführenden weit mehr leisten müssen als „nur“ zu singen. Heute aber proben die rund dreißig Sängerinnen und Sänger Johannes Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ und seine Motette 67 „Warum ist das Licht gegeben“. Wie konventionell!

  1. Viele Stimmen, viel Verwirrung?: Der Begriff beschreibt mehrstimmige, oft sehr komplexe Gesangsstücke durch die Jahrhunderte hinweg. Ob Machaut im Mittelalter oder Hindemith in der Moderne, sehr viele Komponisten nutzen und lieben die Motette. (MH)



Der Saal im Chorforum Essen ist mit bunten Säulen verziert, in einer Rundung fristen Sessel ein einsames Dasein, der blassgrüne Plastikboden erinnert an eine Turnhalle.
„Warum“ schallt durch den Raum, zwei Klang-Monolithen, unumstößlich. Gegen die Akkordsäulen wirken die architektonischen Pendants wie Zahnstocher. Das rote Besucher-Sofa steht seitlich des Dirigenten, direkt hinter einer Säule. Von hier aus sieht man nur seine Arme, die hinter den Abgrenzungen hervor tanzen, schweben, den Weg weisen. Bei Brahms-Phrasen gilt es, dran zu bleiben, den Endpunkt nicht aus den Augen zu verlieren – und der Chor zieht seine Phrasen so zwingend bis zur Auflösung, dass man sich auf nichts anderes konzentrieren kann. So unergründlich romantisch diese Harmoniewendungen sind, so genau weiß Helgath, seit 2011 künstlerischer Leiter des Ensembles, wohin die Reise gehen soll. Seine Vorstellung dieser Musik erscheint klar wie eine Partitur 251 , die vor dem inneren Auge vorbeizieht.

  1. Die Partitur ist das Buch der Musik: Ganz genau ist hier jedes Instrument mit seinen Noten niedergeschrieben, damit die Ideen und Visionen des Komponisten die Zeit überdauern und immer wieder zu klingender Musik werden können. Dass sich manches nicht gut notieren lässt – genaue Phrasierungen, Tempi oder Ausdruck zum Beispiel – gibt uns heute die Gelegenheit, herrlich über Interpretationsfragen zu streiten. (AV)

Bei einem solch hohen Grad an Perfektionismus könnte der Klang technisch und kalt werden. Warum dem nicht so ist, liegt in der faszinierenden, gleichzeitig banalen Grundvoraussetzung für diese Art des Musizierens: die große Freude daran. „Der eigene Spaß und die Botschaft ans Publikum lassen sich einfach nicht trennen“, befindet Ulrike Walter, Sopranistin beim ChorWerk seit 2001. Sie hat ein offenes Lachen und denkt vor jeder Aussage sorgfältig nach. „Es ist großartig, zu etwas eine Beziehung aufzubauen, sich etwas Neues zu eigen zu machen. Ich genieße diese Spielfreude!“ Die Sängerin arbeitet aus der Motivation heraus, mit unwahrscheinlichen Dingen konfrontiert zu werden. Am Anfang einer Projektphase – im Jahr gibt es bis zu zwölf davon – wisse sie manchmal nicht, wie das alles gehen soll. Und dann geht es doch, mit viel Schokolade, bis man irgendwann unter der Dusche Schönberg-Skalen 188 pfeift. Vielleicht ist es ja so einfach: Wenn die Ausführenden überzeugt sind von ihrem Repertoire und alles geben, es perfekt und mit Begeisterung umzusetzen, wird auch die absurdeste zeitgenössische Musik zum Genuss.

  1. Es ist die wohl einflussreichste Kompositionstechnik des 20. Jahrhunderts. Als ihr Begründer gilt Arnold Schönberg, der von einer Gleichberechtigung aller Töne träumte. Es sollen immer erst alle zwölf Halbtöne einer Oktav erklingen, bevor wiederholt wird. Solche Reihenprinzipien stehen im Vordergrund, Tonalität ist nachgeordnet. Was auch heute noch viele Menschen davon abhält, sich dieser Musik zu öffnen. (MH)

Mit seinen Sportschuhen balanciert Helgath auf der Querstrebe seines Stuhls herum, sein schmaler Körper ist ständig in Bewegung, die braunen Augen wandern im Saal herum. Die Ruhe, die dieser Mann ausstrahlt, ist kaum mit seinem Bewegungsdrang zusammenzubringen. Heute Abend geht er noch mit einem Kollegen Tennis spielen.
„Ich glaube, manchmal sehe ich kompliziertes Repertoire einfach sportlich.“
Dass er Dirigent wurde, kam ziemlich unvorhergesehen. Er spielte schon früh mehrere Instrumente, studierte dann Schulmusik und hatte irgendwann Lust drauf, Chordirigat auszuprobieren. Vielleicht ist das seine wertvollste Eigenschaft: nicht auf Biegen und Brechen etwas zu wollen, sondern die Dinge mit einer Unverkrampftheit anzugehen, die einfach nur sympathisch wirkt.

„Ihr klingt, als hättet ihr zu viel Pasta gegessen."

Florian Helgath

Auf einmal schaut er ungläubig, lächelt dabei. Im Sopran stimmt die Intonation nicht ganz, und anstatt das einfach so zu verbessern, kommt dieser verwunderte Blick. Intonationsschwierigkeiten oder falsche Töne scheinen für ihn so unmöglich zu sein wie die Behauptung, dass die Erde nun doch nicht kugelförmig sei. Die Sopranistinnen verbessern sich selbstständig, auch alle anderen melden sich bei winzigen Fehlern sofort. Bei vier Probentagen – davon zwei mit Klavier und Solisten – wäre es gar nicht möglich, auf einem niedrigeren Niveau einzusteigen. Helgath formuliert seine Wünsche präzise, andererseits ist klar, dass die Verantwortung für eine schöne Stimme bei jeder und jedem einzelnen liegt. Fast alle im Ensemble haben ein professionelles Gesangsstudium absolviert und beherrschen ihre Stimme perfekt. „Es ist nicht meine Aufgabe, euch einzusingen. Und ihr klingt, als hättet ihr zu viel Pasta gegessen.“ Dieser Kombination aus Witz und Strenge wohnt ein seltsamer Geist inne. Doch offenbar sind sich alle einig: Wenn ein Klang nicht passt, ist er komisch, eben weil es doch so leicht und natürlich anders gehört. Mittelmäßigkeit oder stimmliche Unzulänglichkeiten haben hier keinen Platz. Und das ist ein weiteres Mysterium an diesem Ensemble: dass eine vorgefasste Ordnung existiert, die wie der goldene Schnitt naturgegeben erscheint. Diese ist aber kein Korsett, in dem die Mitglieder gefangen sind, sondern ein gesunder Rahmen, innerhalb dessen alles fließen und sich entwickeln kann.

Diese Natürlichkeit strahlen die Sänger*innen auch in einem jeglichen Maßstäben entrückten modernen Repertoire aus. Im Sommer waren ein paar von ihnen an der Oper Dortmund zu Gast, für die Minimal-Oper „Einstein On The Beach“ von Philip Glass. Nach vier Stunden kompliziertester Tonreihen wirkten sie immer noch so, als sei es für sie das Normalste der Welt, in Trollkostümen durch die Zuschauerreihen zu tanzen und übermenschliche Soli auszuführen.



Und jetzt dieser Brahms! Jeder ambitionierte Schulchor hat die romantische Motette schon einmal gesungen, sie ist eine alte Bekannte aus Kirchenkonzerten. Die Herausforderung ist also keine technische, sondern eine interpretatorische.
„Warum?“ Zwei Akkorde, ein klares D-Dur, gefolgt von einem verzweifelten g-Moll. Die fallende Terz im Sopran beinhaltet die ganze menschliche Fassungslosigkeit. Warum Gott Leid zulässt, auf diese Frage kann es keine Antwort geben – und wie es Brahms gelungen ist, genau diese Tatsache in Musik umzusetzen, wird ein Rätsel bleiben. Aber sobald das ChorWerk diesen ersten Aufschrei singt, erübrigt sich jede weitere Frage.

Die nächsten Konzerte des ChorWerk Ruhr:
Am Sonntag, 4. und Montag, 5. Dezember tritt das Ensemble in Essen und Neuss mit seinem Adventsprogramm „In Dulci Jubilo“ auf. Es werden Werke von Michael Praetorius, Dietrich Buxtehude und Heinrich Schütz zu hören sein. Hier gibt es weitere Informationen: www.chorwerkruhr.de

© ChorWerk Ruhr / Pedro Malinowski


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