Von Carsten Hinrichs, 24.02.2017

La-La-Leitmotiv

Sonntagnacht finden in Los Angeles die Oscar-Verleihungen 2017 statt. Wir haben die nominierten Filmscores unter die Lupe genommen.

Der Tonfilm macht die Filmmusik zum Teil des Kunstwerks: Was wäre der rosige Teint der Hollywood-Diven ohne Geigenschmacht und Summchor?

Für manche ist es ein Ritual, dem sie hierzulande sogar den Nachtschlaf opfern: Wer live erfahren will, welche der Academy Award Nominees den begehrten Oscar nach Hause tragen dürfen, muss sich den Wecker auf die frühen Morgenstunden stellen. Nicht nur Stars und Sternchen werden dabei ausgezeichnet, sondern alle Gewerke der Filmproduktion. Und natürlich auch der beste Filmscore. Wir haben uns die Kandidaten angehört, die dieses Jahr ins Rennen gehen.

Als die Bilder laufen lernten, waren sie noch stumm. Dennoch war Musik von Anfang an dabei, denn den Part, das Geschehen in Töne zu verwandeln, übernahmen improvisierend Filmpianisten und -organisten, wo auch immer ein Projektor ratterte. Und sorgten mit Klatsche, Pfeife und Blech gleich noch für die nötigen Geräusche. Mit dem Tonfilm wurde dann auch die Filmmusik verbindlicher Teil des Kunstwerks: Dem plötzlich rosigen Teint der Hollywood-Diven verliehen Geigenschmacht und Summchöre wie etwa in „Gone With The Wind“ eine Wirkung, der man sich emotional schwer entziehen konnte.



Zuweilen war es sogar erst die Musik, die die Bilder unauslöschlich ins Gedächtnis brannte. Wie die unter den Klängen von Wagners „Walkürenritt“ zum Angriff fliegenden Helikopter in „Apocalypse Now“ oder die von Philip Glass in die Warteschleife geschickte Zeit, in der Virginia-Woolf-Hommage „The Hours“.



Apropos „Richard Wagner“: Was wäre die Filmmusik ohne sein Leitmotiv 106 ? Damit gab er den folgenden Komponistengenerationen eine Technik an die Hand, entweder dieselbe – oder eine ganz eigene – Geschichte in Tönen zu erzählen, indem klangliche Chiffren auftreten wie Akteure. Und auch in punkto Instrumentation und Stimmungsschilderung von Gewitter bis Weltuntergang konnte Wagner keiner das Wasser reichen. Bis auf den Briten Gustav Holst vielleicht, ohne dessen geharnischte „Planeten“ die Sci-Fi-Abteilung Hollywoods von „Star Wars“ bis „Star Trek“ heute wohl arm dastünde.

  1. Déjà vu? Na klar! Denn das ist das Prinzip: Leitmotive ziehen sich als wiedererkennbare musikalische Elemente durch ein Werk. Jedes steht jeweils für ein besonderes Gefühl, eine bestimmte Person – mal als markante Melodie, mal als einzelner Akkord. Wagner verwendete sie in seinen Opern so exzessiv, dass Kenner pausenlos Leitmotiv-Bingo spielen können. (AJ)

Schauen wir uns nun einmal an, was die fünf nominierten Scores 2017 so zu bieten haben. In „Passengers“ reist ein Raumschiff mit Menschen im Kryo-Schlaf einer Kolonie entgegen, bis zwei der Schläfer außer Plan erwachen – 90 Jahre zu früh. Thomas Newman (*1955, „Skyfall“, „Wall-E“) war in schöner Regelmäßigkeit nominiert, hat aber noch keinen Oscar gewonnen. Nun ist die Digitalisierung der Traumfabrik längst soweit fortgeschritten, dass Komponisten wie Hans Zimmer für ihre im Studio gesampelten Filmmusiken gar kein Orchester mehr bemühen müssen. Das gilt auch für Newman, der in seiner Weltraumpartitur so lange auf Hall und elektronische Verfremdung setzt, bis die Romanze zum Tragen kommt. Und mit ihr warme Töne von Klavier, Oboe und Streichquartett aus der Dose. Ein Spagat zwischen der Elektroeiszeit von Steven Prices „Gravity“ und John-Williams-Melodienseligkeit.



Gleich drei der nominierten Filme handeln davon, wie Menschen sich selbst erfinden. Wobei es bei „Jackie“ streng genommen darum geht, die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu erlangen. Im Zentrum des Biopic stehen Jackie Kennedys Tage zwischen dem Attentat und der Beerdigung ihres Mannes, des Präsidenten. Für Mica Levi – der einzigen Komponistin unter den Anwärtern, und auch das gibt es nicht jedes Jahr – ist es die erste Oscar-Nominierung. Hervorgetreten ist sie bisher durch die Musik zum Indie-Film „Under The Skin“ mit Scarlett Johansson. Bei „Jackie“ hält sie sich nicht mit Zeitkolorit auf – einzig ein Vibrafon lässt die „Sixties“ erahnen. Dafür schrieb sie eine kompakte und unheimlich dichte Partitur für Streichensemble, zuweilen von Klavier, Flöte und Klarinette ergänzt. Die Akkorde des Hauptthemas unterstreichen die selbstbewusste Eleganz der Protagonistin, die Glissandi 49 , mit denen sie erodieren, wirken aber zugleich beklemmend. So, wie Jackie mit dem Tod ihres Mannes die gesellschaftliche Rolle genommen wird, scheint auch dem Hörer der Boden entzogen zu werden. Eine Filmmusik, die sich Hollywood-Klischees verweigert und mit reduzierten Mitteln starke Wirkung erreicht.

  1. Weltraummusik! Ja, es ist Musik, die abhebt, die durch das Notensystem schliddert, wie Seife durch den Türschlitz. Es geht hierbei um die kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe. Posaunen sind prädestiniert für das Geflirr. Aber auch Instrumente wie Flöten können das, da hört man aber den Übergang von Ton zu Ton. Ups. (CW)



Es wäre schön, wenn man dasselbe auch über die Filmmusik zu „Lion“ behaupten könnte. Auch hier geht es um Selbstvergewisserung, allerdings nicht im Kampf mit der Geschichtsschreibung, sondern dem Vergessen. Ein Kleinkind geht im Straßengewühl Kalkuttas verloren, und 20 Jahre später macht sich der inzwischen nach Australien Adoptierte auf die Suche nach der eigenen Kindheit. Klingt rührselig, und ist es leider auch. Für den Score hat sich der amerikanische Pianist Dustin O’Halloran mit dem in Nordrhein-Westfalen geborenen Klangkünstler Hauschka (alias Volker Bertelmann) zusammengetan, für den das ebenfalls die erste Nominierung für einen Academy Award bedeutet. Tatsächlich bewahren nur Hauschkas Verzerrungen und Übersteuerungen, Klangchiffren und Metallkratzereien die Partitur davor, zu lieblicher Meterware zu verkommen. Nah aufgenommenes, filzig gedämpftes Klaviergekreisel und Streichersäuseln (wie im Track „Orphans“) sind ohne die Bilder schwer bekömmlich, liegen aber mit dem Plot auf einer Linie.



Nun könnte man sagen, das Rennen ist doch eh gelaufen. Mit „La-La-Land“ geht ein Film an den Start, der Hollywood ganz selbstbezüglich glänzen lässt. Das waren bisher fast immer die großen Gewinner der Verleihung. Der Film zeigt das aber nicht nur anhand jener jungen Menschen, die sich verzweifelt nach dem Licht der Filmindustrie, nach Ruhm und Bühne sehnen, sondern unterlegt dem ganzen einen Score, der die Mühen auf dem Weg nach oben in Swing verwandelt, dem täglichen Kampf um Liebe und Aufmerksamkeit einen Sinn verleiht und all jene feiert, die so verrückt sind, Künstler werden zu wollen. Die Klippen des Künstlertums waren schon im Schlagzeuger-Drama „Wiplash“ das Thema von Regisseur Damien Chazelle, und wie dort ist Komponist Justin Hurwitz ein Score gelungen, den man nur als handwerklich meisterhaft bezeichnen kann. Im Prinzip besteht die Partitur aus Variationen zweier Themen – der Parade der arbeitenden Youngsters und dem (mal langsamen, mal voll orchestrierten) Walzer der beiden Verliebten, Jazzpianist Sebastian und Schauspielerin in spe Mia. Beide Themen sind kontrastierend aufeinander bezogen und werden als Leitmotive eingesetzt, Richard sei Dank. Aus dieser Beschränkung destilliert Hurwitz aber einen musikalischen Sprudelquell, dessen Sog und Schwung man sich nicht entziehen kann. Auch lange nach dem Film geht einem diese Musik nicht mehr aus dem Kopf. Wer hier nicht ins Wippen kommt, sollte sich gleich mal die Ohren waschen gehen.



Bleibt die Frage, ob diesem Voltreffer noch einer der anderen Kandidaten gefährlich werden kann. Mag die Musik zu „Jackie“ vielleicht zu nerdig für die Auszeichnung sein – mit „Moonlight“, der bei uns am 9. März in die Kinos kommt, ist ein Film im Rennen, der inhatlich wie eine Antwort auf die Vorwürfe des letzten Jahres wirkt, auf den Oscar hätten letztlich weiße, männliche Bewerber die besten Chancen. Wir folgen darin dem Erwachsenwerden von Chiron, der irgendwo zwischen drogenabhängiger Mutter und dem smarten Nachbarn und Ersatzvater Juan seinen Platz im Leben sucht. Dass Chiron nicht nur farbig, sondern auch homosexuell ist, macht ihn zum doppelten Außenseiter. Als Drogendealer nennt er sich um in Black und verschafft sich den vermissten Respekt. Jahre später begegnet er einem Freund aus der Jugend wieder, der ihn durch Erinnerungen an emotionalere Tage ins Schleudern bringt. In seiner Partitur stellt Nicholas Britell (ebenfalls Oscar-Debütant!) ähnlich wie Mica Levis den hier vermutlich jedoch real eingespielten Streicherklang in den Mittelpunkt, aber nicht in so unnahbarer Eleganz, sondern dunkel untersetzt, drängender und rauer. Sein klanglicher Protagonist ist eine Violine, die sich – irgendwo zwischen barockem Concerto und romantischer Kadenz – in verzweifelten Arpeggien 20 windet und dadurch atemberaubende Spannung aufbaut. Dem Violinkonzert von Philip Glass übrigens nicht unähnlich.

  1. Auseinander mit euch! Ein Akkord wird zu einem harfenartigen Geklirr zerlegt. Ursprünglich war das eine Verzierung, die der Interpret heraufbeschwor, wie sein gusto es wollte. Im Lauf der Zeit bestimmte der Komponist im Notentext, wann arpeggiert wird. Sieht fast aus wie Kunst, diese schwarze, horizontale Schlängelei. (CW)



Vielleicht steht uns ja doch eine überraschende Entscheidung bevor, so wie 2006, als Gustavo Santaolalla für seine Musik zu „Brokeback Mountain“ ausgezeichnet wurde – und damit immerhin an zwei wirklich guten Beiträgen von John Williams („Die Geisha“, „München“) und dem Schmachtfetzen vom „Ewigen Gärtner“ vorbeizog. Damals war das eine Art Trostpreis für den 8-fach nominierten Favoriten, dem man den Oscar als „Bester Film“ aufgrund seiner Außenseiter-Geschichte so recht nicht zugestehen wollte. Vielleicht läuft es dieses Jahr anders, und die Jury scheut die klaren Bekenntnisse nicht. Das würde es allerdings noch wahrscheinlicher machen, dass sich die „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ dann in Sachen Score für den Musikfilm „La-La-Land" entscheidet und damit nur bekräftigt, wofür sich Hollywood am liebsten zuständig fühlt –Träume aus Swing und Technicolor.

Die Oscar-Verleihung live verfolgen

Pro7 überträgt live von der Oscar-Verleihung aus Los Angeles. Los geht es am Sonntag unsere Zeit um 23:30 Uhr mit dem Countdown am Roten Teppich, es folgen ab 00:30 Uhr Interviews mit den Stars und Sternchen, die sich für einen Moment an die Seite reißen lassen. Die eigentliche Show aus dem Dolby Theatre wird ab 02:30 Uhr live übertragen, Moderator der Gala ist der in den USA kultisch verehrte Showmaster Jimmy Kimmel.
Auch ein Blick zu den örtlichen Programmkinos lohnt sich. An manchen Orten finden nachts Live-Übertragungen in eurem Lieblingskino statt. Da könnt ihr gemeinsam mit Gleichgesinnten und in Dolby Surround der Müdigkeit trotzen. Oder ihr wartet einfach auf den Zusammenschnitt am nächsten Morgen.

Hero: Ausschnitt CD-Cover © Universal Music
Slider: © A24 / DCM: „Moonlight“ (Chiron: Alex Hibbert als Kind, Ashton Sanders als Teenager, Trevante Sanders als Erwachsener, Juan: Mahershala Ali und Kevin: Jharrel Jerome)
Kachel: © flickr.com/Tim Olson/CC BY 2.0


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