Von Carsten Hinrichs, 23.05.2017

Auf dem Wasser zu singen

Die Temperaturen klettern endlich in sommerliche Höhen. Warum nicht einfach mal gepflegt stranden – mit klassischer Musik.

Besonders produktiv haben die Romantiker auf das Wasser reagiert, haben die unergründliche, ewig sich wandelnde Seele darin gespiegelt gesehen.

Als ich so alt war wie die Mehrheit der niusic-Autoren heute, befasste ich mich weder zielstrebig mit der Karriereplanung, noch brachte ich überhaupt mein Studium in Bestzeit zuende. Dafür hatte ich, noch gänzlich frei von Aufmerksamkeitsfressern wie facebook oder Smartphone, Zeit ohne Ende. Eine meiner Freizeitbeschäftigungen bestand darin, Musik zu verschiedensten Themengebieten aufzustöbern, zu sammeln und in Playlists zu arrangieren. Noch ganz brav in iTunes, nur für mich und ohne jeden Gedanken daran, das einmal zu teilen. So konnte ich zu bestimmten Jahreszeiten oder Stimmungen auf einen Klick all jene Musik auf den iPod ziehen, auf die ich dann turnusmäßig Lust bekam. Ob Passionen zu Ostern, Kammermusik für die Herbstmelancholie oder barocke Schlachtenschilderungen für’s Bewerbungsgespräch – da war ein Kommen und Gehen der Tracks.
Mein Musikkonsum hat sich seither sehr verändert, doch als nun die Reihe mit der Redaktionsplaylist an mich kam, habe ich eine alte Vorlage rausgesucht und nachgebaut. Denn draußen klettern die Temperaturen in die Höhe, und wer kann, wird sich bald wieder gerne dem nassen Element nähern, ob auf Augenhöhe oder an Bord eines Kahns oder Segelschiffs. Oder einfach das kühle Plätschern eines Brunnens im Schatten genießen.

Denn das Wasser ist das Thema dieser Playlist, als Teich, als Fluss, als See, der befahren wird. Georg Friedrich Händels „Wasser-Musik“ darf nicht fehlen, auch wenn sie völlig unverdächtig ist, als Programmmusik gemeint zu sein. Dennoch denkt man bei der Loure mit ihren gravitätisch ausschreitenden Akkorden, die sich im eigenen Echo widerspiegeln, fast zwangsläufig an die königliche Bootsfahrt auf der Themse, dem die Suite ihren Namen verdankt. Der Theorbist Robert de Visée durfte in Stunden der Zurückgezogenheit für Ludwig XIV. spielen, jenen König, der in seinem Garten die wohl aufregendsten Wasserspiele Europas beherbergte. Seine Sarabande könnte mühelos das Plätschern eines Springbrunnens begleitet haben, der eine von Hecken gesäumte Nische Versailles erfrischt.

Besonders produktiv haben natürlich die Romantiker auf das Wasser reagiert, haben die unergründliche, ewig sich wandelnde Seele darin gespiegelt gesehen, es mit Nixen bevölkert und mit Sagen befrachtet. Wie keine andere Figur steht dabei die Wasserfrau Undine für die Ambivalenz des Elements. In Carl Reineckes gleichnamiger Flötensonate begegnet sie uns noch eher schüchtern, Maurice Ravel hat sie – in einem der vertracktesten Klavierstücke der Literatur – dafür in aller Abgründigkeit porträtiert: ebenso schön wie kalt, ebenso verlockend wie tödlich. Felix Mendelssohn und Franz Liszt halten sich lieber daran, das Wesen der Seerose zu erkunden, die makellos aus schlammigen Tiefen an die Oberfläche steigt, so dass es aussieht, als hätte der Mond selbst sie ins Schilf geflochten. August Klughardt verzichtet für seine Fantasiestücke über Nikolaus Lenaus „Schilflieder“ gleich ganz auf eine Singstimme – ihm reicht als Konnex zum Wasser, dass auch das Doppelrohr aus Schilf ist, auf dem die Oboe ihren seelenvollen Ton produziert. Camille Saint-Saëns macht im „Aquarium“ aus dem „Karneval der Tiere“ das Element für kurze zweieinhalb Minuten selbst zum Hauptdarsteller, in silbrig-hoheTöne der gedämpften Violinen und der Celesta getaucht.

Den Rahmen der Playlist bilden die vier Brunnen aus Ottorino Respighis Stadtporträt „Fontane di Roma“: ein zarter Morgen im Valle Giulia, dann der Tritonenbrunnen am Mittag, dessen Meereshalbgott hier instrumentenpraktisch korrekt auf seinem Muschelhorn (= den Hörnern) den ganzen Satz über nur einen einzigen Ton stößt – mehr hat so eine Muschel nun mal nicht. Mit dem Panoramaformat der Fontana di Trevi können es ohnehin nur wenige Wasserspiele aufnehmen, doch Respighi wird ihm auch klanglich voll gerecht, mit lärmenden Kaskaden, bevor der Tag über den Brunnen im Garten der Villa Medici verebbt, zum Schlagen der Abendglocken. Wohltuend nach solchen Exzessen der Klangmalerei ist das Naturverständnis von Claude Debussy. In den „Images“ widmet er sich dem Wasser von allen Allegorien und Zuschreibungen befreit, lediglich als Spiegel ohne Seele. Die Herangehensweise seines Klavierstücks „Reflets dans l’eau“ ist skizzenhaft wie ein halb abstraktes Aquarell und scheint den Betrachter mit seinen Deutungsversuchen bewusst außen vor zu halten.



Ich gebe zu, meine Auswahl schrammte damals schon hart an der „Klassik zum Frühstück“-Kategorie vorbei. Doch ich bin ein Mensch mit einer für Lyrik empfänglichen Seite, mit der auch diese Playlist ihren Anfang nahm. Denn mich faszinierte die Traditionslinie kultureller Produktionen, die durch Texte wie Friedrich Leopold von Stolberg-Stolbergs „Lied auf dem Wasser zu singen“ in Gang gesetzt wurde: Schon über das Motiv der Kahnfahrt, die im Gedicht zum Sinnbild der Lebensreise wird, könnte man einen Essay schreiben. Franz Schubert nahm den Text auf und überführte das Schwanken und Plätschern in den Schwung einer kleinen Valse mélancholique, mit perlenden Terzenketten. Und der bildungsbeflissene Franz Liszt wiederum machte aus dem Lied eine Apotheose seines verehrten Schuberts. Er verlegte die Singstimme in den Klaviersatz – eine Herausforderung für jeden Pianisten, was Liniendenken und Fingersatz anbelangt. Nun schichten sich die Terzen in drei sich steigernden Variationen zu den Akkord-Kaskaden einer virtuosen Grande Valse brillante. Unter deren Oberfläche noch immer der Rhythmus der Lyrik von Stolberg-Stolbergs Gedicht pulst. Um diese Bezüge erlebbar zu machen, habe ich hier, wie auch bei Schubart/Schuberts „Forelle“, die Gedichte vorangestellt – darin vor allem aber auch meiner fast zwanzig Jahre alten Vorlage verpflichtet. Wer bei gelesener Lyrik Scham empfindet, möge einfach so lange untertauchen.


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