Von Marie König, 30.01.2017

Musiklebensgeschichte

Die Geigerin Jenny Abel war weltberühmt. Wenn sie erzählt, werden die großen Namen der Musikgeschichte zu echten Menschen. niusic-Autorin Marie König traf die 74-Jährige zuhause.

Was für ein Händedruck! Diese filigrane Frau, die mir den Mantel abnimmt, ist unfassbar präsent. Und so herzlich! Ich fühle mich wie eine entfernte Verwandte von Jenny Abel, als sie mich zum Kaffeetisch lotst und auf einer Eckbank mit Wolldecke platziert. Während sie die Milch holt, sprechen wir über chinesisches Geschirr und Katzenfutter.
Diese Frau also, die ihrem Kater für gewöhnlich verdünnten Ziegenquark kredenzt, hat Igor Strawinski dirigieren sehen, durfte Bernd Alois Zimmermann Bazi nennen und wurde von Oskar Kokoschka porträtiert. Jetzt schenkt sie mir Kaffee aus einer roten Thermoskanne ein, es gibt Unmengen von Keksen auf roten Servietten, Sonne fällt auf die Backsteinwände. Unter den Teppichen knarzt der Holzboden, ansonsten ist es still um das Haus im badischen Gernsbach.

Bei einem Kongress, im Hintergrund ein Foto des Hauses

Dieser Ort war seit jeher Jenny Abels Bezugspunkt, auch, als sie für Studium, Konzerte und ihr sozialpolitisches Engagement die ganze Welt bereiste. Entworfen vom berühmten Architekten Egon Eiermann, steht es heute unter Denkmalschutz. „Ich bin nie wirklich ausgezogen", sagt sie mit Blick auf ein Aquarell, das sie als Kind malte. Der Kater namens Miezi kratzt an der Tür und schleicht sich vorwurfsvoll am Tisch vorbei, „der ist es nicht gewohnt, dass er mal nicht meine ganze Aufmerksamkeit hat.“ Da bricht es hervor, ein sprudelndes Lachen, das hinter den dicken Brillengläsern hervorblitzt, die schwarzen Locken in Bewegung setzt und gar nicht mehr aufhören will. Ich krame in meinem Kopf nach den Fragen, die ich eigentlich stellen wollte, doch sie alle scheinen plötzlich viel zu läppisch, irgendwie zu klein. Also höre ich einfach zu.

The Soul of Germany

Schon die zweijährige Jenny sägt auf einer selbstgebastelten Geige. Geboren ist sie 1942 in Husum, mit zwölf Jahren wird sie von der Schule befreit und zuhause unterrichtet. Kurze Zeit später geht sie als Jungstudentin nach Freiburg und Köln, wo sie auch Bernd Alois Zimmermann kennen lernt. In den siebziger Jahren ist die „Paganini unseres Jahrhunderts“ (FAZ) in den Sälen der Welt unterwegs, in den USA wird sie als „The Soul of Germany“ berühmt und tritt als allererste Solistin der BRD in Peking auf.
Sie sucht sich die Nische der zeitgenössischen Musik, bringt viele Werke zur Uraufführung und grenzt sich damit von anderen Solistinnen und Solisten ihrer Zeit ab. Als deutsche Musikbotschafterin tritt sie im zerstörten Sarajevo beim Friedenskonzert der Nationen nach dem Bosnien-Krieg auf. Gegen Selbstvermarktung sträubt sie sich, stattdessen setzt sie sich für Rumänien oder die Sinti & Roma ein und geht mit ihrer Geige gegen den Irakkrieg auf die Straße.

Uraufführung von Henzes Solosonate in Montepulciano

Moderne Musik mit Pizza

Es sind die 1970er Jahre, und der deutsche Komponist Hans-Werner Henze hat gerade in Montepulciano sein eigenes Festival gegründet. Es gibt Abendessen im Innenhof eines Priesterseminars, mit frischer Pizza und zu viel Wein – die Künstler und die Einheimischen sitzen wie eine Großfamilie beisammen. Nach dem Essen hakt Henze Jenny unter und führt sie durch die alten Räume, wo gerade das Happening einer mailändischen Performancegruppe geprobt wird: Geigenklänge vom Klo, und, das kann man eigentlich kaum erzählen, lebende Truthähne werden an den Füßen unter die Decke gebunden. Henze ist selbst entsetzt, die beiden flüchten zurück in den Innenhof, wo italienische Volksmusik gegeben wird. „Das sei doch die echte, wirkliche Musik, hat er gesagt. Das Ursprüngliche, das hat ihn immer fasziniert.“ Sie waren gute Freunde, Henze und Jenny, im Januar 1976 schenkte er ihr seine berühmte Solosonate „Tirsi Mopso Aristeo“, eins der schwersten Werk für Violine solo. „Immer, wenn er gefragt hat, ob man etwas Bestimmtes überhaupt spielen kann, habe ich ja gesagt, auch wenn ich noch nicht genau wusste, wie“, lacht sie schelmisch. „Aber ich habe für alles eine Lösung gefunden.“ In den siebziger Jahren blüht ihre Karriere, und alle wollen sie hören.

Jenny Abel mit dem Dirigenten Marek Janowski

Wie macht sie das? Ich komme nicht dahinter, was genau an ihrer Stimme oder ihrer Erzählweise derart hypnotisch ist. Von den Bücherregalen im Gernsbacher Wohnzimmer blicken stumm die Vasen und Skulpturen, während Jenny Abel durch die Jahrzehnte rauscht, immer weiter zurück, in einem schwindelerregenden Tempo an Namen, Orten und Ereignissen vorbei, bis hin zu dem kleinen Mädchen, das sie einmal war und das in der ersten Reihe eines Saals sitzt, fast im Sessel versinkt und mit offenem Mund einer Probe zuhört. Auf der Bühne versucht Igor Strawinski, seine eigenen Werke zu dirigieren, fuchtelt aber immer verzweifelter herum, bis er sich ratsuchend Richtung Zuschauerraum wendet. Diese verflixten ungeraden Takte!

„Igor Strawinski war kein guter Dirigent. Die Musiker des Südwestfunkorchesters hatten Angst, dass er sie in den Aufführungen durch seine Zeichengebung auseinander bringen würde.“

Jenny Abel

Hans Rosbaud, der Leiter des Südwestfunkorchesters, gestattet der wissbegierigen Zwölfjährigen, in seine Proben zu kommen. Der Kontakt entsteht über Jennys Vater Gustav Abel, der zwar in der Industrie arbeitet, aber als Laienmusiker und Gründer der Baden-Badener Brahms-Gesellschaft gut in der Gegend vernetzt ist. Bei der Übergabe eines Brahms-Autographes hört Elisabeth Furtwängler, die Witwe des Dirigenten, Jenny Abel im Konzert – und lädt sie in ihre Villa am Genfersee ein. 1973 spielt die Geigerin dort, und nach dem Auftritt stürzt ein Mann in ihre Künstlergarderobe und brüllt: „Ich muss Sie malen!“

Plattencover mit einem der Abel-Porträts von Kokoschka

Jenny Abel spielt Bartók und Bach

So verläuft die erste Begegnung Jenny Abels mit Oskar Kokoschka, der klassische Musik liebt und von seinen Erinnerungen an Gustav Mahler berichtet. In den folgenden Wochen ist Jenny oft bei ihm zu Besuch. Mit einem großen Wasserglas Whiskey pur in der Hand begrüßt er sie um zehn Uhr morgens. Endlose Stunden spielt sie ihm Stücke auf der Geige vor, muss spielen und sich dabei bewegen, während der 87-jährige Künstler auf seinem Stuhl sitzt, trinkt, raucht und vor seinem inneren Auge bunte Kristalle vorbeiziehen sieht. Seine reale Sehkraft ist in dieser Zeit schon vom grauen Star geschädigt, doch letztendlich zeichnet Kokoschka die siebenteilige Porträtserie „Jenny Abel spielt Bartók und Bach“ in nur zwei Tagen. Die schwarzen Linien sehen grob aus, etwas kantig wirkt das junge Gesicht, das mal fröhlich, mal sehr ernst blickt. Ernst, dieses Wort verwendet Jenny Abel oft, wenn sie von guten Musikerinnen und Musikern spricht. „Es muss einem ernst sein mit der Musik, man muss etwas zu erzählen haben.“



Was man braucht

Die Wipfel des Nordschwarzwaldes ragen inzwischen wie ein Scherenschnitt in den Abendhimmel. Jenny Abel knipst die Lichter an und schenkt Wasser nach, das sie täglich vom benachbarten Brunnen zum Haus schleppt. Mitten in einem kurzen Referat über die dürftige Qualität des örtlichen Leitungswassers hält sie inne, „ich weiß gar nicht, was aus alldem werden soll.“ Sie plane eine Begegnungsstätte der Künste, doch darum kümmern müsse sich dann jemand anderes, „jemand, der Erfahrung hat, die richtigen Menschen zusammenzubringen.“ Einen Ort für Begegnung, das brauche man doch in der heutigen Zeit.

Draußen ist es stockdunkel geworden, in der großen Fensterfront spiegelt sich das Wohnzimmer. Ich wage nicht, auf die Uhr zu schauen, aber es muss schon spät am Nachmittag sein, und wenn ich mir vorstelle, dass diese weltberühmte Geigerin ihre Abende ganz allein mit ihrem Kater verbringt, habe ich einen Kloß im Hals. Wir trinken noch eine Tasse Kaffee, und mir fällt auf, wie oft sie während des Gesprächs von Freundinnen und Freunden erzählt hat, die zu früh gegangen sind.
„Wenn Sie um acht gehen wollen, müssen wir jetzt das Taxi rufen“, sagt sie fürsorglich, und tut es dann auch. Sie drückt mir noch einen großen Stapel CDs in die Hand, packt eine große Tüte Kekse ein, und dann gehen wir gemeinsam die vielen Treppenstufen hinunter zur Straße. Oben, hinter all den wuchernden Hecken und Bäumen, sehe ich die hell erleuchteten Fenster des Hauses, das wie ein Raumschiff in der Dunkelheit zu schweben scheint.
Zum Abschied umarmt mich Jenny Abel fest, „kommen Sie doch im Frühjahr wieder, die Blüte hier ist sehenswert.“ Dann steige ich ins Taxi, sie winkt mir nach, im weißen Kegel der Straßenlaterne stehend, eine rote Strickmütze auf dem Kopf.

© Jenny Abel
© ESTA / Siegfried Pöllmann


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