Von Ricarda Natalie Baldauf, 07.12.2017

Liebe mit Nasenbluten

Filmmusik muss nicht unbedingt von Hans Zimmer oder John Williams komponiert werden. Manchmal schnappt sich ein Regisseur auch einfach das, was schon da ist. Welche Synergien entstehen, wenn geniale Musik auf außergewöhnliche Filmplots trifft, zeigt Ricarda Baldauf in ihrer Playlist.

Stell Dir vor, Du hast fünfundvierzig Tage Zeit, um einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Ansonsten wirst Du in ein Tier verwandelt. David, die Hauptfigur im Film „The Lobster“ (2015) möchte im Fall der Fälle ein Hummer werden. Er und andere Singles werden in ein Hotel am Meer verfrachtet, denn in der Stadt dürfen nur Paare leben. Immer wieder schleicht sich der zweite Satz aus Ludwig van Beethovens Streichquartett Nr. 1 in das Geschehen, über den tiefen Achteln im Dreierrhythmus spannt die erste Violine eine wehmütige Kantilene 60 , zu der Beethoven vom Abschied der beiden Liebenden in Shakespeares „Romeo und Julia“ inspiriert wurde. Was für eine absurde Verbändelung! Denn in Giorgos Lanthimos Szenario ist Liebe zu einer Worthülse verkommen, Paare finden durch belangloseste Gemeinsamkeiten (z.B. Nasenbluten) zueinander. Und zum zweiten Satz aus dem Klavierquintett von Alfred Schnittke, einem torkelnden Walzer aus reibenden Dissonanzen, muss sich David vom Zimmermädchen sexuell stimulieren lassen, mehr ist in diesem Hotel nicht erlaubt.

Dystopien, Absurditäten, überspitzte Realitäten: All das, was meinen Kopf zum Rauchen bringt, fasziniert mich. Also habe ich mir ein paar meiner Lieblingsfilme vorgeknöpft, mitsamt der Filmmusik.

  1. In Deutschland meint man es mit der Kantilene gut: Es ist eine Melodie, meist sehr getragen im Charakter, und sie verfolgt einen den ganzen Tag. Ein Ohrwurm? Ja, oder vielleicht ein Ohrwurmfetzen. In Italien ist der Begriff eher diffamierend und bezeichnet eher abfällig abgedroschene Lieder. (CW)



Da scheinen Saiten zu reißen, es wird auf die Pauke eingedroschen und wuchtig in die Tasten gehauen: Zum zweiten Satz aus Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ lässt Craig, die Hauptfigur in Spike Jonzes „Being John Malkovich“ (1999), seine Puppen tanzen. Eine brotlose Kunst. Doch als er im siebeinhalbten Stockwerk eines Bürogebäudes zufällig eine Tür entdeckt, die in den Kopf von John Malkovich führt, sieht Craig einen Ausweg aus seiner finanziellen Misere: Mit einer Arbeitskollegin gründet er ein Unternehmen, das Ausflüge in das Hirn des Schauspielers verkauft. Nach 110 Minuten voller Skurrilitäten wirkt „Amphibian“ von Björk wie eine Streicheleinheit für das zermarterte Zuschauer-Hirn.

Kampf dem Kitsch und Klischee!

Dieser Regisseur ist gesegnet: Als Xavier Dolan seinen bereits dritten Film „Laurence Anyways“ (2012) veröffentlichte, war er erst 23 Jahre alt. Wie er immer wieder, mit seiner ihm ganz eigenen Ästhetik, exzentrische Charaktere kreiert, die gegen Kitsch und Klischees ankämpfen, das fasziniert mich. So begleiten wir Laurence und seine Verwandlung in eine Frau in den 1990er Jahren. Als Erik Saties „Gnossienne 7“ erklingt, steht die Welt kurz vor der Jahrtausendwende. Laurence hat vielen Widrigkeiten getrotzt und ist endlich die Frau geworden, die er immer sein wollte. Saties Klavierstück mit all seinen feinen Zwischentönen verrät aber, dass der Kampf um Freiheit nicht leichter werden wird. Dagegen strotzt der Titelsong des Films, „A New Error“ des Berliner DJ-Zusammenschlusses Moderat, vor Entschlossenheit.



Weltraumexzesse

Die Apokalypse ist atemberaubend! In Ultra-Zeitlupe liefern sich unsere Erde und der Planet Melancholia einen Totentanz zu den sich windenden, sich quälenden Klängen aus Richard Wagners Vorspiel zu „Tristan und Isolde“. Lars von Triers „Melancholia“ (2011) überblendet die Geschichte der depressiven Justine mit derjenigen unserer Welt, die auf ihr Ende zusteuert. Als Erde und Melancholia schließlich kollidieren, spürt man vor allem eines: Erlösung – so wie Isolde, die ihren Liebestod stirbt und „in des Welt-Atems wehendem All“ ertrinkt.
Kryptischer, aber genauso virtuos: „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick. Ich weiß noch genau, wie ich angesichts der unglaublichen Spezialeffekte eines Films von 1968 nicht mehr aus dem Staunen heraus kam. 2001 haben die Menschen den Weltraum erobert und auf dem Mond einen Monolithen ausgegraben. Eine Astronauten-Crew soll die Herkunft des mysteriösen Objekts herausfinden. Der Schrecken, den György Ligetis „Lux Aeterna“ dabei auslöst, ist kaum auszuhalten! Unglaublich, was für eine Gefahr vom Monolithen auszugehen scheint, obwohl doch gar nichts Schlimmes passiert.

„Es gibt kein Zurück. Deshalb ist es so schwer, sich zu entscheiden. Man muss die richtige Wahl treffen. Solange man sich nicht entscheidet, bleiben alle Möglichkeiten offen.“

Aus dem Film „Mr. Nobody“

Entscheide Dich!

Das „Was wäre wenn?“ exerziert der Film „Mr. Nobody“ (2009) durch. Als sich die Eltern von Nemo Nobody trennen, steht der Junge vor der Entscheidung, bei seinem Vater zu bleiben oder mit der Mutter auszuwandern. Ausgehend von diesem Lebensmoment skizziert Regisseur Jaco van Domael verschiedene nicht-lineare Lebensläufe: Einmal verliebt sich Nemo unsterblich, ein anderes Mal ist er in einer langweiligen Ehe gefangen, und wieder ein anderer Handlungsstrang zeigt seine Reise zum Mars, um dort die Asche einer Frau aus einem weiteren Leben zu verstreuen, was untermalt von Gabriel Faurés eingängiger „Pavane op. 50“ umso skurriler wirkt. Der erste Satz aus Benjamin Brittens Cellosuite Nr. 1 ist da wie eine Denkpause zwischen all den Irrungen und Wirrungen. Denn schon bald lässt sich nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden.
Auch der Psycho-Thriller „Shutter Island“ (2003) hat mich ratlos zurück gelassen. Schon am Anfang breitet Regisseur Martin Scorsese eine schwere Decke der Beklemmung über dem Zuschauer aus – wenn zu Ingrim Marshalls „Fog Tropes“ ganz langsam ein Schiff aus dem Nebel auftaucht, mit dem zwei US-Marshals ein Krankenhaus für psychisch gestörte Schwerverbrecher auf der abgelegenen Shutter Island ansteuern. Das Ende aber hat mich am meisten erschüttert: Scorsese lässt sein ganzes Handlungskonstrukt zusammenbrechen, und zum Abspann erklingt Dinah Washingtons „This Bitter Earth“, dem Max Richter sein Jazz-Gewand ausgezogen und es in ein Bett aus tief seufzenden Streichern gelegt hat.

© Christian Geisnaes
© Ricarda Baldauf


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