Von Hannah Schmidt, 23.01.2018

Ich glaub‘, mein Pferd tanzt

Erik Satie, Jean Cocteau, Pablo Picasso und Serge Diaghilev mit seinen Ballets Russes konzipierten 1916 das Ballett „Parade“ und führten es 1917 auf. Die Premiere war ein irrer Skandal. Wie wirkt das Stück heute? Ein wackeliges Video von einer Neuinszenierung steht auf YouTube – und liefert Antworten.

Es war für die Zeitgenossen die wohl hochkarätigste Kombination an Künstlern, die man sich damals vorstellen konnte: Jean Cocteau konzipierte das Ballett, Erik Satie komponierte die Musik dazu, und Pablo Picasso schuf erstmals in seinem Leben mit den Kostümen, dem Vorhang und dem Bühnenbild Kunst für eine Theaterbühne. Dazu kamen die Balletts Russes unter Leitung von Sergei Diaghilev und mit dem Tänzer Leonide Massine im Ensemble, der unglaublich gut gewesen sein muss – und der bei „Parade“ sein Debüt als Choreograf feierte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an das Stück und seine Uraufführung. Gleichzeitig befand sich Europa aufgrund der politischen Umstände im Ausnahmezustand: mitten im Weltkrieg, 1917, als in den Schützengräben täglich französische Soldaten starben – eine künstlerisch und politisch brisante Gesamtkonstellation, die fragil unter Spannung stand.

Internationaler, bunter Quatsch

Und dann passierte auf der Bühne etwas empörend Unerwartetes – keine ernst gemeinte Reflexion des Weltgeschehens, keine urfranzösische Kunst, nichts, was sich dem Nationalwahn unterordnete und diesen bediente, sondern, einfach gesprochen, internationaler, bunter Quatsch. Meterhohe kubistische Kostüme, in denen die Tänzer fast gänzlich verschwanden, eine verspielte und gewöhnungsbedürftig moderne Choreografie, keine dramatisch konzipierte Handlung, repetitive Musik, Fahrradklingeln und Schreibmaschinen im Orchester, und als Krönung des Ganzen: ein tanzendes Pferd.

Natürlich war es kein echtes Pferd, das auf der Bühne herumsprang, sondern es waren zwei Tänzer in einem einzigen Kostüm – einer vorne, einer hinten. Kurioserweise ist der Auftritt des Pferdes der einzige, für den in Erik Saties Partitur keine Musik verzeichnet ist. Die Neuinszenierung der Europa Danse Company unter Leitung von Jean-Albert Cartier aus dem Jahr 2007 löst das ganz einfach: Das Pferd tritt (im Video ab 00:11:12) ohne Musik auf.



„Hätte ich gewusst, dass es so dumm ist, hätte ich die Kinder mitgebracht.“

Heute lachen wir, wie die wackelige YouTube-Aufnahme zeigt, über diesen Kniff und über das Kostüm und die Art, wie sich die beiden Tänzer in ihm bewegen. 1917 jedoch waren die Zuschauer empört: „Hätte ich gewusst, dass es so dumm ist, hätte ich die Kinder mitgebracht“, soll einer der Besucher beim Rausgehen gesagt haben.
Tatsächlich gab es im Théâtre du Châtelet damals aber weit mehr als nur ärgerliche Kommentare – die Uraufführung von „Parade“ wurde zu einem handfesten Skandal, der in seinem Ausmaß dem Skandal nach Strawinskis „Sacre du printemps“ von 1913 in nichts nachstand. Dazu kommt, dass das Théâtre des Champs-Élysées, in dem der „Sacre“ uraufgeführt wurde, deutlich kleiner ist als das – 1917 überdies restlos ausverkaufte – Théâtre du Châtelet. Verspielter Quatsch, während sich das Land im erbitterten Krieg befindet? Die Zuschauer fühlten sich schlicht verarscht.

Wie diese Uraufführung wirklich ausgesehen hat, wissen wir heute nicht. Es sind Skizzen von Picasso erhalten geblieben und es gibt Berichte und Kritiken von diesem Abend des 18. Mai 1917. Wäre das Ballett zwei Jahre früher oder später uraufgeführt worden, hätte es sicherlich nicht diesen Skandal nach sich gezogen. Sich in die Zeit hineinzuversetzen, fällt schwer, ist gar unmöglich – die 90 Jahre spätere Neuinszenierung von Cartier, im Foyer des Théâtre du Châtelet von einer Leinwand abgefilmt, vermittelt nur einen Teil des Werks, die Lacher im Hintergrund geben einen authentischen Eindruck der Wirkung auf das Publikum der 2000er Jahre. Die Leute nehmen es gelassen, schmunzeln über diese Kuriosität von vor 90 Jahren, sehen in dem Ballett eine gute Slapstick-Nummer. Über welche Skandale wir in 90 Jahren entspannt lachen werden? Vielleicht ist dann ja auch jemand mit der Kamera dabei.

© Screenshot: Hannah Schmidt
© Repro: Hannah Schmidt


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.