Von Marie König, 15.03.2017

Mehr Nebel!

Das Schumann Quartett hat sich Joseph Haydn, Béla Bartók, Tōru Takemitsu und Arvo Pärt vorgeknöpft. Den unbändigen Spaß hört man der Einspielung an, aber manchmal scheinen die Musiker allzu genau zu wissen, wo es langgeht.

Sie könnten seine Enkel sein. Scherzend stehen sie zwischen den Bäumen, während er mit erhobenem Zeigefinger etwas erklärt. Bestimmt gehören die Mitglieder des Schumann Quartetts zu der Sorte Enkel, die gern mit ihrem Opa im Wald spazieren geht – auch, wenn sie hier nicht mit ihrem Großvater, sondern dem estnischen Komponisten Arvo Pärt unterwegs sind. Diese Szene geht einem so nah, wie die neue CD klingt: Man hat das Gefühl, direkt zwischen den vieren zu sitzen, wenn sie sich in die Quartette von Joseph Haydn, Béla Bartók, Tōru Takemitsu und Arvo Pärt schmeißen.

Und was da alles klingt! Wütendes Kratzen auf den Saiten, das Schnauben der Musiker und das Hauchen des Flageoletts. Was der Tonmeister hier bewusst konserviert, sind natürlich nur Nebenhörplätze eines herrlich griffigen Quartettklangs, den die drei Brüder Schumann – Erik, Ken und Mark – und die Bratschistin Liisa Randalu erzeugen. Ohne zu zögern marschieren sie los, durch vier sehr unterschiedliche Landschaften.



Da soll noch jemand behaupten, Haydn klinge idyllisch! Sein op. 76,4 hieß zwar schon seit Anbeginn „Sonnenaufgangsquartett“ – einleuchtend, wegen der aufsteigenden Geigenmelodie am Anfang –, doch die wohlige Wärme ist schnell verflogen. Beim Schumann Quartett brodelt es unter der Dur-Oberfläche, jeder Kontrast wird ausgekostet. Wo Sechzehntelketten zum Herumdudeln verleiten, arbeiten die vier mit so viel Differenziertheit, dass die Motivwiederholung beinah überhört werden kann.
Ebenfalls zum großen Kanon der Quartettliteratur ist Béla Bartóks zweites Streichquartett zu zählen. Enstanden in den Jahren 1915 bis 17, verschmelzen Bartók-typische Folklore-Melodien, schmerzhafte Dissonanzen 104 und melancholische Lenti 269 . Im heiklen zweiten Satz wetzt das Quartett seine Bögen und treibt uns unerbittlich durch diesen wilden Tanz, dass man kaum stillsitzen kann.

  1. Früher gemieden, spätestens im Jazz emanzipiert: die Dissonanz. Wenn Akkorde vor Spannung fast platzen und Intervalle sich reiben, hängt das mit den ungleichen Schwingungsverhältnissen der Töne zueinander zusammen. Dissonanzen streben nach Auflösung in einen konsonanten Klang. Als „starke“ Dissonanzen gelten bis heute die kleine Sekunde, große Septime und der Tritonus, das (nomen est omen) Teufelsintervall. (AJ)

  2. Einfach mal Fünfe gerade sein lassen: Wenn in einem Stück die Vortragsbezeichnung „Lento“ (ital. „langsam“) auftaucht, haben die Musiker Zeit, sich auf die Wunder eines jeden Taktes in Ruhe einzulassen. Langsamer als das „Adagio“ soll es sein, sagte Haydn, aber noch nicht so saumselig wie ein „Largo“ – in dessen Schatten Händels König Xerxes bequem eine ganze Mittagspause verschlafen kann. Eben wie ein ruhiger Fluß aus Musik. Kommt aber eher selten vor.



„Wir haben Lust, es bis zum Äußersten zu treiben, zu probieren, wie die Spannung trägt.“

Ken Schumann

Genau vermessen sind diese Landschaften. Die Musiker haben eine so präzise Idee von jeder noch so kleinen Stilistik, dass man sich zeitweise eine winzige Verirrung herbeisehnt, um innezuhalten und die heraufbeschworenen Wiesen, Wälder und Meere zu bestaunen. Tōru Takemitsus „Landscape I“ wäre ein wunderbarer Anlass dafür: Das Stück des japanischen Komponisten lebt von den Pausen, die sich zwischen die schroffen Dissonanzen drängen – nur fehlt die Zeit, sich in die Leere zu begeben.
Doch schließlich: Pärts „Fratres“, das letzte Stück auf der Platte, das in einer Kirche aufgenommen und vom Komponisten persönlich betreut wurde. Es kreiselt in den unendlichen Raum, wiederholt das immer gleiche Tonmaterial, das sich unmerklich ineinander verflicht. Und da blitzt es auf! Das Staunen der Musiker über die fahlen Harmonien, die wie Nebel über eine hügelig-nordische Landschaft streichen. Dieser direkte und weite Klang macht süchtig – und man kann nicht anders, als alles nochmal von vorne zu hören.


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Joseph Haydn, Tōru Takemitsu, Béla Bartók, Arvo Pärt

Landscapes

Schumann Quartett

Berlin Classics/Edel

© Kaupo Kikkas


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