Von Malte Hemmerich, 28.05.2017

Bach als Leitkultur

Wie kann man stolz auf deutsche Komponisten sein? Und auf der andern Seite oft verleugnen, dass man sich am liebsten mit der eigenen europäischen Kultur beschäftigt. Ehrlichkeit als Leitkultur. Das wäre doch was!

Dieses Wochenende startet in Ostwestfalen das kleine Musik- und Literaturfest „Wege durch das Land“. Die Ortsverbundenheit und das schöne geborgene Heile-Welt-Gefühl in der Region zwischen Detmold und Bielefeld kristallisieren sich im Begriff „Heimat“ heraus, dem Leitgedanken und Motto des diesjährigen Festivals. Um den faden Beigeschmack des Wortes gleich zu entschärfen, merken die Festivalmacher an:

„Der Begriff ist aufgeladen, ideologisch erhitzt, und man weiß kaum mehr, ob er positiv oder negativ besetzt ist.“

Warum nur denkt man besonders heute und hierzulande bei dem Begriff denn gleich an den Schützenverein, an den Stammtisch im zwielichtigen Lokal nebenan? Besonders in der Hochkulturwelt scheint eine Konzentration auf das Heimische oft gleichgesetzt zu werden mit Kleingeist, Rückschritt und Konservativismus. Das Gegenteil, nämlich weltoffene Kunst, Musik, völkerumschlingend und alle abholend, wird derweil, meist hohl, auf Programmen und Pressekonferenzen gepredigt. Macht sich ja auch einfach besser als der ehrliche Satz, der da für die Mehrheit der deutschen Musikfestivals wäre: Hier spielen weiße Musiker die Kunstmusik europäisch-westlicher Tradition von überwiegend deutschen Komponisten für ein zumeist gut betuchtes altes, weißes Publikum.

Denn so ist es nun eben häufig in der hier aufgeführten klassischen Musik, wenn nicht gerade Neues oder Pseudo-Exotisches auf dem Spielplan steht. Und das muss ja nicht gleich schlecht sein. Dann ist „Wege durch das Land“ in Ostwestfalen eben kein hochpolitisches, internationales Festival, sondern beglückt das ortansässige Publikum mit bodenständiger Musik, die in diesem Fall tatsächlich auch Stücke aus anderen Kulturkreisen enthält.
Wem aber das nicht reicht, der muss den Mut zur Ehrlichkeit haben und Ist-Zustände klar benennen, um etwas daran zu ändern. Die Phrasen „international“ und „offen“ allein sind kein Verwandlungstrank, das Publikum und auch die Musiker entwickeln sich nicht automatisch.

Botticelli: Die Verleumdung des Apelles. Die nackte Wahrheit ganz links.

Der Konflikt, sich einerseits mit etwas Kulturellem als Gemeinschaft identifizieren zu wollen und gleichzeitig als künstlerische Veranstalter immer in der Verantwortung zu sein, nicht auszuschließen und polititsch auf der Höhe zu sein, klingt im Thema „Heimat“ durch und passt zur Leitkulturdebatte: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat vor einigen Wochen, als wäre er Martin Luther im Wahlkampfmodus, zehn Thesen für deutsche Leitkultur vorgeschlagen, ausgerechnet in der Bild am Sonntag. Neben einigen streitbaren Punkten, für die der Minister bereits genug Spott erntete, stehen dort auch ebenso kluge wie lapidare Dinge über Stellenwert von Bildung und Demokratie. Und dann, in These 5, spricht de Maizière tatsächlich über die Kulturnation Deutschland:
„Bach und Goethe gehören der ganzen Welt und waren Deutsche (...). Es ist selbstverständlich, dass bei einem politischen Festakt oder einem Schuljubiläum Musik gespielt wird.“ Klug gewählte Sätze, die sowohl meine Mitbewohnerinnen, als auch der Stammtisch unterschreiben können. Schließlich lehnt sich der Minister nicht weit aus dem Fenster und verwebt beides, fordert etwa Bachs Musik auf mehr Schuljubiläen.
Ehrlicher wäre gewesen, wenn der Innenminister darauf hingewiesen hätte, dass Bach schon länger nicht mehr selbstverständlich zur „Leitkultur“ in diesem Land gehört und warum er denn überhaupt noch als Kulturidentifikationsfigur benötigt wird. Nur damit wir stolz auf ihn sein können?

Irgendwie eine Binse, aber in unserer Zeit erscheint es weder passend, kollektive Kulturleitlinien zu verschreiben, noch seine Kulturwurzeln zwanghaft zu öffnen und um jeden Preis integrierenden Etikettenschwindel zu betreiben. Ja, mir gibt eine Bachfuge tatsächlich ein Gefühl von Heimat, das ich keinesfall als irgendwie belastet empfinde (Ostwestfalen lässt grüßen). Ich höre dann etwas Altes, Kulturelles, das ich verstehe und nachvollziehen kann. Stolz bin ich nicht unbedingt, schließlich ist Bachs Musik genauso wenig meine Leistung, wie wenn elf Millionäre einen Fußballtitel gewinnen. Wer aber mit fahneschwenkendem Autokorso zur aufgedrehten h-Moll-Messe seine patriotischen Gefühle ausleben will, kann das gern tun. In besonderem Maße schätzen kann ich Bachs Musik in jedem Fall. Aber soll ich das auch von meinen Mitbürgern, ob deutsch oder nicht, verlangen?
Leitkultur, bezogen auf das tatsächliche Kulturleben, das ist wohl eher überholtes Bildungsbürgerwunschdenken, denn längst hat die Individualisierung, die Ghettoisierung auch die Kultur erfasst. Jeder Mensch lässt sich von seinen eigenen kulturellen Strömungen leiten. Da können die geschliffensten Worte allein, und wären sie auch von Goethe, nichts gegen ausrichten.

© Gemeinfrei/CC BY 2.0
© thomasdemiaziere.de


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