Von Christopher Warmuth, 23.11.2017

Das Prinzip Queyras

Jean Guihen Queyras ist einer der Top-Violoncellisten der Welt. Er ist unprätentiös, zwar kein Radikalinski, aber derart süchtig nach Qualität, dass viele seiner Aufnahmen Referenzcharakter haben. Im Gespräch mit niusic spricht er über zeitgenössische Musik, seine Liebe zur Arbeit mit Freunden – und über Offenheit.

niusic: Wo ist Jean Guihen Queyras in zehn Jahren?

Jean Guihen Queyras: Ich hoffe, dass ich da noch spiele.

niusic: Existenzangst?

Queyras: (lacht) Nein. Aber die Angst, dass man irgendwann nicht mehr kann, die begleitet einen als Künstler immer.

niusic: Wenn die Welt davon ausgehen kann, dass Du in zehn Jahren noch spielst: Welche Projekte willst du in der Zukunft vermehrt machen?

Queyras: Ich gehe da mit dem Strom, es kommt sehr viel darauf an, wen ich in den nächsten Jahren treffen werde. Ich entscheide sehr selten alleine, was ich als nächstes mache. Da kann ich nur sagen, dass ich hoffentlich genau so inspirierende Künstler treffe wie im Moment. Mein aktuelles Projekt ist gemeinsam mit der Tanzchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker. Das nimmt mir ein wenig die Limitierung, nur zu spielen. Sie hat eine fantastische Choreografie zu den Solosuiten 88 von Johann Sebastian Bach für Cello kreiert.

  1. Wenn Komponisten Stücke wie Allemande, Courante und Gigue in einer Suite bündelten, dann waren diese barocken Tänze der alten Adelshöfe nicht mehr für das Tanzparkett bestimmt, sondern für den Konzertsaal. Aber auch die musikalischen Highlights aus Ballett und Oper finden in der kondensierten Form der Suite ihren Weg auf die Konzertpodien. (AV)



niusic: Die Kombination von klassischer Musik und Tanz kann ganz neue Publikumsschichten erschließen ...

Queyras: Darum ging es uns nicht. Ich glaube, die klassische Musik hat es in den Schönen Künsten am schwersten.

niusic: Warum?

Queyras: Ich bin kein Pessimist. Ich glaube nicht, dass die klassische Musik irgendwann ihr Publikum verliert. Es ist eher wie eine Wellenbewegung, und im Moment herrscht einfach nicht ganz so viel Interesse. Dennoch viel, aber – wie ich finde – zu wenig. Ich vermute stark, dass ein Kunstbereich, in dem es darum geht, dass wir die Augen und die Ohren gleichzeitig so stark offen halten müssen wie bei der klassischen Musik, dass das im Moment – in den gesellschaftlichen Zeiten – überfordert. Aber genau diese Überforderung kann uns ja Antworten geben für unser Leben. Das ist der Teufelskreis.

niusic: Was würde der Kulturpolitiker Jean Guihen Queyras als erstes ändern?

Queyras: Die Antwort wird Sie langweilen, weil das vermutlich jeder sagt: Ich würde die Musikerziehung in den Schulen stärken.

niusic: Das sagt tatsächlich jeder ...

Queyras: Es klingt mittlerweile so banal. Aber es ist wichtig. Wenn wir mehr an diese spezielle Sprache gewöhnt wären, dann könnten wir die Überforderung eindampfen zu einem Mindestmaß. Und dieses Mindestmaß kann man nicht weiter vereinfachen, das braucht die Kunst. Und das brauchen auch wir als Zuhörer.

niusic: Bach ist jetzt vielleicht im engeren Sinne kein Paradebeispiel für Ihr Repertoire. Sie machen sehr viel zeitgenössische Musik. Ist da die Überforderung nicht von vorneherein noch größer?

Queyras: Das ist lustig. Da habe ich die vergangenen Tage viel darüber nachgedacht. Die Musik ist das eine, da wäre eine These von mir, dass zeitgenössische Musik niedrigschwelliger ist für Leute, die noch nicht so viel Erfahrung mit Musik haben, weil sie weniger voraussetzt. Es ist dort viel einfacher, intuitiv zu sagen, dass man etwas mag oder nicht. Aber vor allem die Szene und die Geschehnisse drumherum haben viel Einfluss auf ein Publikum ...

niusic: Was erzählt die neue Musikszene dem Publikum?

Queyras: Das ist nicht zu vereinfach, da gibt es alles: von Abkapselung bis hin zu Fachsimpeleien oder dem Drang, populär zu werden. Aber damals, als die zeitgenössische Musik noch in den umstürzlerischen Anfängen war – also ich spreche da die Zeit in den Fünfzigern bis Achtzigern an, da war das alles noch eine Spur militanter. Heute wird da gerne nostalgisch zurückgeblickt, dass da alles besser gewesen sei. Nun ja. Da dachte das Publikum natürlich auch, dass die Musik hässlich ist, was natürlich nicht stimmt, aber vor allem war da eine bedenkliche Diskurskultur. Der Diskurs war nämlich hässlich . Die Komponisten haben sich da teilweise die furchtbarsten Dinge an den Kopf geworfen. Das brauchen wir nicht mehr. Da war gar nichts besser als heute. Ich bin sehr froh, dass wir zivilisierter miteinander umgehen.

Der Frankokanadier Jean-Guihen Queyras ist bekannt für seine glühend heißen Cellovokalisen, für seinen unbändigen Drang, die Linien immer noch eine Millisekunde ausdehnen zu wollen, egal welcher vertrackten Komplexität sie zu Grunde liegen, für seine kontinuierliche Perfektion im Umgang mit alten, mit neuen und vor allem mit abseitigen Werken und: für seine Bescheidenheit.
Queyras unterrichtete an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen und ist gegenwärtig Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik in Freiburg im Breisgau. 2018 ist er außerdem Artist in Residence beim Musikfestival Heidelberger Frühling. Sein Repertoire ist zum Gruseln breit: Von Barock über Klassik zur Romantik 179 und zu einem großen Teil zum Zeitgenössischen 107 reicht es. Seine Diskografie umfasst alle Beethovenschen Werke für Violoncello und Klavier, die Schumannschen Cellokonzerte, Vivaldi, Debussy, Elgar, selbstverständlich Bach und und und.
Aber auch den verunglimpften Begriff des Crossover hat er bereits gerettet mit seinem Projekt thrace, bei dem er sich mit Keyvan und Bijan Chemirani, mit denen er in der Haute-Provence aufgewachsen ist, im Aufnahmestudio verbarrikadiert und gezeigt hat, dass traditionelle Musikstücke aus der Türkei, Bulgarien und dem heutigen Griechenland sich auf inspirierende Weise mit zeitgenössischen Werken von Kurtág und Widmann kombinieren lassen. Eine herrliche Sandkastenliebelei!

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)

  2. Die Musikepoche des Schmachtens und des Kitsches: Aber halt, es kommt immer auf den Interpreten an. Hier wird, vorwiegend im 19. Jahrhundert, der Ausdruck individueller Gefühle immer wichtiger. Gut gemacht, geht diese Musik sehr tief zu Herzen. Bekannte Vertreter: Schumann, Tschaikowski, Brahms und viele mehr. (MH)



niusic: Schauen wir mal nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft.

Queyras: Nicht schon wieder den Hellseherblick in meine Zukunft ...

niusic: (lacht) Ich meine generell. Was ist der nächste Schritt für die Akteure der Musik?

Queyras: Wir müssen aus unseren Blasen raus. Was bringt es uns, wenn wir uns in einen Kreis setzen und uns selbst bestätigen. Musik muss von jedem diskutiert werden. Dann müssen wir auch mit dem Pro und Kontra leben. Aber darum geht es: Offenheit.


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