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Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Anna Chernomordik, 24.03.2017

Liedchen wechsel dich!

So wie unser Musikgeschmack über unsere Persönlichkeit, so verraten auch Lieder viel über den Zeitgeist ihrer jeweiligen Epochen. Das gilt auch umgekehrt: Die Entwicklung der Gattung verrät uns viel darüber, was uns das Lied eigentlich sagen will.

Das Lied ist ein zweischneidiges Schwert in Zeiten, in denen Menschen die deutsche Kultur untergehen sehen, ohne zu wissen, was sie denn tatsächlich sein soll. Gerade in Deutschland ist es unmittelbar mit den ersten Bestrebungen nach einer nationalen Kultur verbunden. Dieses Standing hatte es aber nicht immer, im Laufe der Geschichte wechselte das Lied sogar öfter die Rollen.

Lieder als historische Quelle

Unglückliche Ritter, angebetete Hofdamen: Am mittelhochdeutschen Minnesang erkennen wir, dass auch das sogenannte „Dunkle Mittelalter“ ein Zeitalter der Liebe war. Aber diese zeigt sich eher als politisches Liebesspiel am Hofe, ohne konkreten Anlass und mit immer dem selben Ausgang: Die Frau bleibt unerreicht. Aus Liedern wissen wir auch, dass die Ritter dann bei Bäuerinnen auf ihre Kosten kommen in der sogenannten „Dörperminne“. Was wir aber nicht wissen ist, wie das Ganze denn geklungen haben soll. Der Großteil der überlieferten Liederbücher besteht nämlich aus Texten ohne Melodien. Vielleicht war die Musik sogar improvisiert? Nur vom „letzten Minnesänger“, der im 15. Jahrhundert streng genommen keiner mehr war, wissen wir mehr. An der Schwelle zur Renaissance, in der der Mensch als Individuum in den Mittelpunkt rückt, entdeckt auch Oswald von Wolkenstein in seinen Liedern das „Ich“. Sie sind Ausdruck seiner Komponisten- und Dichterpersönlichkeit. Dass die Nachwelt von ihm weiß, dafür sorgt der offenbar nicht uneitle Künstler noch zu Lebzeiten in zwei Prachthandschriften selbst.



Emotionen und Lautmalerei

Während die Gedichte weiterhin über die unerreichbare Liebe klagen, ist die Renaissance für die Musik ein Zeitalter der Innovation. Im Rahmen massiver musikgeschichtlicher Umbrüche wird das Lied nun zur Spielwiese der Mehrstimmigkeit 21 und Harmonik 125 . Es entstehen alle möglichen Formen, wie das Tenorlied – Betonung auf „e“ –, bei dem die Hauptstimme, der Tenor, von mehreren Instrumenten und später Stimmen umspielt wird. Am Ende bildet sich das hoch komplexe Madrigal heraus, ein Höhepunkt des mehrstimmigen Gesanges. Die Besonderheit: der gesteigerte emotionale Ausdruck – gerne mit Mitteln der Lautmalerei –, der das Lied fortan prägt.

  1. Motettengesang für Fortgeschrittene: Die Stücke werden vertrackter und mehrstimmiger. Wo bleiben denn da die Emotion und der Ausdruck, fragen die Kritiker. Der große Bruder der ars antiqua kommt trotzdem Mitte des 14. Jahrhunderts stark in Mode. (MH)

  2. Single sein kann ganz schön langweilig werden. Aufregend wird es in der Musik oft erst dann, wenn zu einer einfachen Melodie eine zweite dazukommt. Wenn beide zusammen spielen, entwickeln sie eine musikalische Beziehung zueinander – die Harmonik. Die Spielregeln der Harmonik werden in der Harmonielehre erforscht und festgeschrieben. (AJ)



Das Lied legt den Grundstein für Hausmusik

Für das neue barocke 27 Kunstideal ist das schlichte Lied weniger geeignet als die virtuose italienische Arie 102 . Es verschwindet langsam von der höfischen Bühne. Die erste Liederkrise? Es findet sich dafür in den Wohnzimmern der Bürger wieder, einer jungen Schicht, die sich nun das Luxusgut Kultur erlauben konnte. Lieder entstehen zu Ausbildungszwecken. Georg Philipp Telemanns „Singe-, Spiel- und Generalbassübungen“ beispielsweise sollen „für alle Hälse bequem“ sein. Diese Entwicklung ruiniert das Image des Liedes bei Hofe gründlich, bis sich der Zeitgeist wendet. Die Aufklärung ruft das Lied wieder auf den Plan, denn es bedient nach dem Schwulst des Barock die geforderte Natürlichkeit. In den Berliner Hausmusikzirkeln um Carl Philipp Emanuel Bach und in seiner Nachfolge auch in der Wiener Klassik 187 beginnt die Entwicklung dessen, was wir heute Lied nennen, wenn auch andere Gattungen stärker vorangetrieben wurden. Bei Wolfgang Amadeus Mozart hat das Lied trotz kompositorischer Raffinesse eine gewisse volkstümliche Derbheit. Sein Lied „Der Zauberer“ ist auf Spotify teilweise mit dem Zusatz „explicit“ versehen.

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)

  2. Wie sprechen, nur schöner: In der Oper unterhalten sich die Menschen singend. Während sie im Rezitativ versuchen, möglichst viel Handlung zu erzählen, dürfen Papageno, Carmen und Co. in der Arie ihren Gefühlen Luft machen. Herausgelöst aus der ursprünglichen Geschichte wurden diese Schmuckstücke manchmal berühmter als die Oper selbst. (AJ)

  3. Gehört ein Komponist zu einer der beiden Wiener Schulen, ist das ein Gütesiegel sondergleichen. In der ersten Wiener Schule bereiteten Haydn und Mozart der Wiener Klassik den Weg. Später dann schufen die Komponisten um Arnold Schönberg hier die Grundlagen der Zwölftonmusik. So viel musikalischer Fortschritt in einer Stadt ist einmalig! (MH)



Die Entdeckung des Kunstliedes

Himmelpfortgrund bei Wien, 1814: Die Komposition „Gretchen am Spinnrade“ markiert in den Geschichtsbüchern die Geburtsstunde des Kunstliedes 131 . Als sich Literatur und Philosophie ausführlich mit dem erst 1773 formulierten Begriff „Volkslied“ 267 befassen, folgt Franz Schubert eigentlich nur dem Zeitgeist. Als der damals 17-Jährige das Goethe-Gedicht vertont, übertritt er aber eine Grenze. Seine Musik untermalt nicht mehr den Text, sie deutet ihn und wagt es, eine eigene Dramaturgie, einen eigenen Willen zu entwickeln. Man könnte sagen, Schubert führt Regie. Mit über 600 Liedern versorgt er seit jeher Sänger*innen jeden Alters und Entwicklungsstadiums mit Repertoire. Goethe soll aber genau das Gegenteil geschätzt haben: Vertonungen, die seinen Texten den alleinigen Vortritt lassen, wie die zurückhaltenden Balladen von Carl Loewe. Aber Text und Musik hatten schon immer ein schwieriges Verhältnis.

  1. Welche Arroganz! Kunstliedern wird nachgesagt, dass sie anspruchsvoller und erhabener sind als Volkslieder. Letztere funktionieren über das Prinzip Stille-Post, Abwandlungen im Laufe der Zeit inklusive. Kunstlieder umfassen alle Zeiten, the-time-of-the-time war im 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Kunstlieder sind niedergeschrieben, der Autor des Textes hat eine ebenso große Bedeutung wie auch der Komponist. Endlich einmal ausgleichende Gerechtigkeit! (CW)

  2. Der Kit einer jeden Gesellschaft! Sie haben einen gesellschaftsverbinden Charakter und verraten viel über die kulturelle Identität. Sie wurden mündlich an die nächste Generation weitergegeben und ungerechterweise kann dem Schöpfer nicht gehuldigt werden, weil man ihn meistens nicht kennt. Volkslieder sind meist einfach zu singen, damit sie auch in größeren Gruppen schnell angestimmt werden können. Das Gegenstück ist das Kunstlied, was weitaus artifizieller ist. Dafür ist das Volkslied bekannter. Bäm! (CW)





Im Liederwahn

Nach Schubert wird es kompliziert. Auf der Suche nach einer nationalen Identität erhalten das Volkslied und das gemeinsame Singen eine Schlüsselrolle. Einige der zündenden Melodien früher Kunstlieder sind richtige Ohrwürmer. Sie werden umgeschrieben, vereinfacht und so praktisch zu Volksliedern gemacht, wirken also auch ohne die kunstvoll auskomponierte Begleitung nach. Die nächste Generation der Komponisten entdeckt hingegen Schubert erst so richtig als Vorbild. Ganz vorne mit dabei ist Robert Schumann, der den Feinsinn seines Vorgängers vor allem in der Behandlung des Gedichtes als Kunstwerk weiterentwickelt. Im Jahr 1840 verfällt er einem Schubertschen Produktionswahn und komponiert knapp 140 Lieder. Auch Richard Wagner schreibt Kunstlieder, wenn auch nur wenige. Daran probiert er eine Art Vorstufe seiner Idee des Gesamtkunstwerks aus, während sein Gegenspieler Johannes Brahms auf eine volksliedhafte, aber keineswegs triviale Kompositionsart setzt.

Das Kunstlied

Der Gattungsbegriff „Kunstlied“ entstand als Abgrenzung von einfachen, anonymen Volksweisen und dem zu der Zeit modischen Begriff „Volkslied“. Aber wie immer im wahren Leben ist das nicht so einfach mit der Grenzziehung. Das eine Extrem ist das so genannte „durchkomponierte Lied“. Es unterwirft sich nicht der Regelmäßigkeit von Strophen. Die Musik kommentiert und vertont jede Zeile einzeln. Das andere Extrem ist das Strophenlied, das die gleichmäßige Form des Gedichtes in der musikalischen Form aufgreift und sich auf eine Grundstimmung beschränkt. Dazwischen gibt es noch allerlei Abstufungen, wie das variierte Strophenlied, und alle haben ihren Reiz. Franz Schubert hat je nach Textvorlage alle erdenklichen Formen benutzt. Was sie alle zu Kunstliedern macht, ist die Intention des Komponisten, der Kunstanspruch. Aber was das genau sein soll, ist eine andere Frage.

Hugo Wolf, der vielleicht experimentiertfreudigste unter den Liedermachern nach Schubert, frönt mit der Musik nicht nur der Dichtung, sondern auch dem Dichter, indem er versucht, auch sein Verständnis vom Stil des Dichters einzukomponieren. Manches Werk resultiert dadurch in einer Art Sprechen auf Tönen, mit großen Sprüngen und nicht naheliegenden Melodien, aber mit einer unglaublichen Ausdruckskraft und oft viel Humor.



Auf der großen Bühne

Mit der Entwicklung der kommerziellen Rezeption von Kultur und immer größer werdenden Orchestern wird Richard Strauss, der Zeit seines Lebens eine außergewöhnliche Popularität genießt, zu einem der großen Förderer des Liedes. Einerseits bringt er sie einem größeren Publikum nahe und andererseits überträgt er einige seiner leisen Klavierlieder später in das Konzerthausformat – als Orchesterlied. Adé Intimität, Strauss erschlägt mit Gefühlen. Gustav Mahler entdeckt für sich das Lied als Ventil, um seine persönlichen Hauptmotive Tod und Liebe zwischen Traumwelt und Realität zu inszenieren, mit universellem Anspruch und bis in sinfonische Dimensionen. Für seine Zwecke scheut er nicht davor zurück, in die Textvorlagen einzugreifen. Bereits die tonalen 239 Grenzen überwindend folgen seine Lieder im Gestus aber dennoch einem natürlichen Ideal à la Brahms. Auch für die Zweite Wiener Schule 187 unter Arnold Schönberg ist das Lied eine zentrale Gattung auf der Suche nach neuem musikalischem Ausdruck. An der Schwelle zur Atonalität 188 schreibt Schönberg seine „Herzgewächse“ und verbindet das Lied mit seiner Vorliebe für Kammerbesetzungen. Die Mischung aus Sopran, Harmonium, Celesta und Harfe klingt überirdisch.

  1. Gehört ein Komponist zu einer der beiden Wiener Schulen, ist das ein Gütesiegel sondergleichen. In der ersten Wiener Schule bereiteten Haydn und Mozart der Wiener Klassik den Weg. Später dann schufen die Komponisten um Arnold Schönberg hier die Grundlagen der Zwölftonmusik. So viel musikalischer Fortschritt in einer Stadt ist einmalig! (MH)

  2. Es ist die wohl einflussreichste Kompositionstechnik des 20. Jahrhunderts. Als ihr Begründer gilt Arnold Schönberg, der von einer Gleichberechtigung aller Töne träumte. Es sollen immer erst alle zwölf Halbtöne einer Oktav erklingen, bevor wiederholt wird. Solche Reihenprinzipien stehen im Vordergrund, Tonalität ist nachgeordnet. Was auch heute noch viele Menschen davon abhält, sich dieser Musik zu öffnen. (MH)

  3. Hier ist man verloren. Feste Tonarten bieten in der atonalen Musik keine Orientierung mehr. Stattdessen schwimmt man in einem Meer an chromatischen Tönen, die nach ihren ganz eigenen Regeln kombiniert werden. Wer hat´s erfunden? Arnold Schönberg (auch wenn er es nicht zugeben wollte). Und die Neue Musik hat die Tonalität infolge dann endgültig verdammt. (AV)



Und danach wird es still ums Lied. Zuerst entwickelt Schönberg eine Methode, um aus den Regeln der Harmonik auszubrechen. In der neuen harmonischen Ordnung hat das Lied keinen Platz mehr, es ist zu stark an die alte Musiksprache gebunden, an ihre Tugenden, obwohl Schönberg und Berg Neues weiterhin in alten Formen komponieren. Und dann bricht die Welt zusammen. Danach darf es das Alte nicht mehr geben, war doch die Flucht in die Natur, in die Dichtung, in die Kunst mit verantwortlich für die ganz reale Katastrophe, von der ekstatischen Wirkung ge- und missbrauchter Musik ganz zu schweigen. Wer schreibt danach noch Lieder? Solche, die nach einem Volkston suchen, wie Hanns Eisler in der DDR und Kurt Weill in den USA. Solche, die auf einer Insel leben, wie Benjamin Britten in Großbritannien und Frank Martin in der Schweiz. 1960 veröffentlicht Aribert Reimann „Fünf Gedichte nach Paul Celan“, ein Meilenstein auf seiner Laufbahn als bekanntester Liedkomponist des ausgehenden 20. Jahrhunderts.



Fortsetzung folgt

Das Lied ist in der Krise. So wird das Ausbleiben neuer Beiträge zu dieser altvertrauten Gattung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengefasst. Aber diese Aussage ist ähnlich vage wie die gefühlte und ständig zitierte Dauerkrise der klassischen Musik. Wenn man das Volkslied als urspüngliche deutsche Übersetzung von "popular music" versteht, gedeiht es dagegen prächtig, Popmusik bestehte ja eigentlich nur aus Lieder. Und ihnen komplett den Kunstanspruch abzusprechen, wäre sehr kurzsichtig.Vielleicht erlebt das Lied gerade einfach ein Tief, so wie es im Laufe seiner Geschichte mal mehr, mal weniger im Fokus der Komponisten stand. Hoffnungsvoll könnte man es aber auch formulieren – die nächste Liedwelle ist Zukunftsmusik.


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