Von Robert Colonius, 03.08.2016

Orchesterfieber

Urlaub am Strand? Wandern in den Bergen? Oder täglich stundenlanges, leidenschaftliches Proben im Orchester und Konzerte geben? Die Wahl fällt den Mitgliedern des JPON nicht schwer.

Hamburg, Hochsommer. Schulkinder und Lehrer genießen ihre Ferien, fernab vom Bildungsbetrieb. Doch kaum hat sich der Kreidestaub (oder benutzt man schon Smartboards?) gelegt, kehrt wieder Leben ein in die langen Flure der Irena-Sendler-Schule. Das Junge Philharmonische Orchester Niedersachsen (JPON) wird diesen Ort für die nächsten zehn Tage bewohnen und in ein musikalisches Kraftwerk verwandeln.

„80 Minuten Rausch“, verkündet der junge Dirigent Dominic Limburg und erhebt seinen Taktstock. Nun erfüllt das tiefe, dröhnende Es aus dem „Rheingold“ den Saal. Die Reise beginnt.

„Wo geht’s zum Essen?“, „Wo ist die Aula?“, „Gibt es Duschen?“ ... Langjährige Mitglieder sowie Erstlinge des JPON müssen sich in ihrem neuen Heim in Wellingsbüttel erst noch zurechtfinden. Bei einem Rundgang durch die Schule mit Heidrun Eberl, Cellistin und PR-Beauftragter des Orchesters, wird schnell deutlich, dass der Platz im Speisesaal und in der Aula für die etwa 100 Musiker (es werden bis zu den Konzerten noch mehr) knapp bemessen ist. Als Schlafplatz dienen die Klassenzimmer. „Nebenan ist eine Baustelle“, sagt Heidrun Eberl und zeigt zum Fenster. „So brauchen wir morgens wenigstens keinen Wecker.“ Zum Duschen muss man über das Schulgelände in ein anderes Gebäude.

Planänderung

Die Vorbereitung für die diesjährige Arbeitsphase stellte sich als besonders knifflig heraus. „Erstmals seit unserer Gründung 1989 können die Proben wegen Renovierungsarbeiten nicht in Westerstede stattfinden, außerdem fangen die Schulen in Niedersachsen dieses Jahr so früh an. Wir wussten lange Zeit nicht, wohin“, erzählt Matthias Staiger, Fagottist und erster Vorsitzender des Orchestervorstands. Ein neuer Probeort sei mit zusätzlichem Arbeitsaufwand für das Organisationsteam verbunden. „Aber wir sind natürlich froh, dass es überhaupt geklappt hat.“

Allmählich trudeln alle Musiker in der Schule ein. Für die einen ist es ein Wiedersehen nach langer Zeit, für die anderen ein Kennenlernen. „Es gibt so etwas wie einen ‚harten Kern’ im JPON, aber jedes Jahr kommen auch neue Gesichter hinzu“, sagt Alina Laucke, Klarinettistin und Verantwortliche für Versorgung und Küche.

Keine breite Masse

Nach dem Abendessen kann endlich geprobt werden! „80 Minuten Rausch“, verkündet der junge Dirigent Dominic Limburg, der in den ersten Tagen Chefdirigent Andreas Schüller vertritt, und erhebt seinen Taktstock. Ein Durchlauf des „Ring ohne Worte“ von Lorin Maazel steht an, eine Art Paraphrase von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, aber ohne Gesang. Nun erfüllt das tiefe, dröhnende Es aus dem „Rheingold“ den Saal. Die Reise beginnt. Neben dem „Walkürenritt“ finden sich noch andere Highlights wie z.B. die „Morgenröte und Siegfrieds Rheinfahrt“ und der berühmte Trauermarsch. Wagnertuben 98 und Ambosse kommen ebenfalls zum Einsatz.
Bilanz des eineinhalbstündigen Tuttis: „Die erste Probe heißt nicht umsonst ‚Chaosprobe’. Aber es war schon viel Schönes dabei. Vor allem haben wir nun wirklich Zeit zu proben, und die Bereitschaft ist da, musikalisch ins Detail zu gehen“, meint Dominic Limburg. Eine Bereitschaft, die man von einem „professionellen“ Orchester nicht erwarten kann? „Bei einem normalen Berufsorchester habe ich manchmal das Gefühl, gegen eine breite Masse zu dirigieren. Die Leute sind so routiniert, dass sie kaum noch reagieren. Doch hier beim JPON bekomme ich auf alles, was ich anzeige, eine Reaktion.“

  1. Und wiedermal eine Extrawurst für Richie! "Der Ring des Nibelungen" dauert fast fünfzehn Stunden, da braucht es natürlich noch mehr Schnickschnack, sonst langweilt sich der gut ausgebildete Wagnerianer. Daher hat Wagner ein Blechblasinstrument bauen lassen, das eigentlich ein Waldhorn ist, fälschlicherweise als Tuba betitelt wird. Wagnerhorn, basta! (CW)

Einmal Wagner

Während der Probe fällt der besonders heitere Umgang miteinander auf. Geht beim ersten Mal eine Passage daneben, wird es mit Humor genommen. Von Allüren keine Spur. Musik darf und soll auch Spaß machen! Mit dem üblichen Amateurorchester teilt das JPON allerdings nur die Spielfreude. Das musikalische Niveau ist ungleich höher, schon in der ersten Durchspielprobe. Das merkt auch Jette Kern (Geige), Medizinstudentin in Hannover und zum ersten Mal bei der JPON-Phase dabei: „Hier erhalte ich die Chance, große sinfonische Werke zu spielen. Nicht viele Hobbymusiker können behaupten, auf diesem Niveau schon einmal Wagner im Orchester gespielt zu haben.“

Wünsch dir was!

Doch wer entscheidet über die Programme? Dafür hängen Wunschlisten aus, auf denen jeder Einzelne Vorschläge machen darf. „Da kann es eine Weile dauern, bis das persönliche Lieblingsstück drankommt. Der ‚Ring ohne Worte’ stand schon seit einigen Jahren zur Debatte, jetzt wird er gespielt“, erzählt Heidrun Eberl.
Und wer nach den stundenlangen Orchesterproben immer noch nicht genug hat, spielt später am Abend Kammermusik 120 , auch mal vom Blatt. Auf diese Weise haben sich schon feste Ensembles gebildet, die unabhängig vom JPON Konzerte geben, wie etwa das „Converse Quartet“. Raphael Tietz, Bratschist des Quartetts und mittlerweile Praktikant im Staatsorchester Kassel, kehrt immer wieder zum JPON zurück. „Über die Jahre haben sich feste Freundschaften geschlossen. Allein deshalb lohnt es sich schon, hier mitzuspielen.“
Es nehmen noch weitere professionelle Musiker an der Phase teil. „Man spürt bei allen JPON-lern die Freude am Musizieren. Berufsmusiker treten meist nur zu ihrer ‚Schicht’ an und spielen“, finden die langjährigen JPON-Mitglieder Johanna Gödecke, Flötistin am Staatstheater Hannover, und Simon Etzhold, Soloschlagzeuger der Staatskapelle Dresden.

  1. Ursprünglich wurde sie tatsächlich in Kammern gespielt, nämlich in den Privaträumen von Fürsten und Königen. Deshalb spielen in Kammermusik-Werken nur wenige Musiker, zum Beispiel als Streichquartett, Bläseroktett o.ä., zusammen. Bürger des 19. Jahrhunderts entwickelten aus der höfischen Elitekunst ihre Hausmusik, wie z.B. die „Schubertiaden“, die im kleinsten Kreis vor ausgewähltem Publikum stattfanden. (AJ)

Utopie? Aufopferung!

Neben dem eigentlichen Spielen gibt es noch viele weitere Aufgaben, die das Orchester zu bewältigen hat. Nicht nur die Finanzen, Versorgung und Logistik müssen geplant, sondern auch Programmhefte geschrieben, PR gemacht und die Website verwaltet werden. Selbst wenn man sich nebenbei auch noch im Masterarbeitsstress befindet, wie Heidrun Eberl. Phillip Sasu, Kontrabassist und zweiter Vorstandsvorsitzender, ist für die Finanzen zuständig, aber im „wahren Leben“ eigentlich Arzt. Er hat sich für die Zeit der Arbeitsphase Urlaub genommen. „Das JPON ist für mich eine Konstante, die mich das ganze Jahr über beschäftigt“, sagt Kirsten Lüke, Bratschistin und Registerorganisatorin. „Doch wenn sich am Ende alles zusammenfügt, habe ich immer das Gefühl, dass sich die Arbeit gelohnt hat.“
Es ist schon erstaunlich, welche Macht Musik ausüben kann, welche Kräfte in ihrem Dienste mobilisiert werden. Und wie erfüllend sie letztendlich ist. Strandurlaub, Bergwanderung? Wie unmusikalisch! Wie langweilig!

Kein Sommerloch

Liebhaberei und Professionalität stehen hier nicht im Widerspruch: Das ehrenamtlich organisierte Junge Philharmonische Orchester Niedersachsen (JPON) besteht aus 120 Hobby- und Berufsmusikern und stellt seit 1989 höchst anspruchsvolle Konzertprogramme mit großem Erfolg auf die Beine. Höhepunkt ist die jährliche Projektphase im Sommer, in der fast zwei Wochen am Stück intensiv geprobt wird. Dabei finanziert und verpflegt sich das Orchester vollkommen selbständig.
Die nächsten Konzerte finden am 10., 11., 13. und 14. August in Hamburg und Niedersachsen statt. Genauere Information unter www.jpon.de.

© Stephan Röhl
© Jan Michael Meyer-Lamp


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.