Von Konrad Bott, 08.07.2016

Scharfgeschliffen, die Luft

Das Festival INFEKTION! in der Berliner Staatsoper gibt neuem Musiktheater Raum.

Eine Infektion kann hier zu plötzlicher Erweiterung des Horizonts führen, nebenbei ungeheuren Spaß machen und zum Nachdenken anregen.

Sich zu infizieren ist keine schöne Sache. Von der einfachen Grippe bis hin zu den tragischen Todesbringern Milzbrand, Ebola und Pest reicht der Katalog der Unannehmlichkeiten. Die Voraussetzung für eine Infektion ist stets der Kontakt mit Krankheitserregern, und je intensiver der Kontakt, desto wahrscheinlicher die Infektion – ganz einfach. Auch die Berliner Staatsoper im Schillertheater möchte ihr Publikum nun infizieren, mit etwas, das einigen ungefähr genauso willkommen ist wie eine ordentliche Grippe: dem zeitgenössischen Musiktheater 137 . Doch im Gegensatz zu jeglicher Krankheit kann hier eine Infektion zu plötzlicher Erweiterung des Horizonts führen, nebenbei ungeheuren Spaß machen und zum Nachdenken anregen. Was heißt schon „Neues Musiktheater“? Eigentlich ist dieser Begriff, der die seit den kulturellen Abrieben des zweiten Weltkriegs neu geschriebenen Opern bezeichnet, doch sehr zweifelhaft. „Neuartig“ wäre der bessere Begriff, geht man von der derzeitigen Repertoirestellung dieser Werke aus. Denn Namen wie Mozart, Verdi und Wagner sorgen sicher bei den meisten für mehr „Aha-Effekt“, als zum Beispiel Feldman, Rihm und Lachenmann. Das Festival „INFEKTION!“ stellt mit seinem sechsjährigen Bestehen eine Institution dar, die sich die Vermittlung dieses Neuartigen auf die Fahne geschrieben hat.

  1. Singspiel, Oper, Melodram, Musical – das Auge hört überall mit! Denn Musik und Theater passen doch herrlich zusammen, oder? Dabei ist heute die Inszenierung die halbe Miete - wenn nicht mehr. Pappmaché-Burgen und Reifröcke werden von bedeutungsschwangeren Videoinstallationen abgelöst. Regisseure toben sich aus und geraten ins Fadenkreuz der Kritik, während Dirigenten sich in die Musik vergraben. Eine quirlige Welt mit viel Show&Shine! (KB)



„Die Luft hier: Scharfgeschliffen“ von Komponist Matthias Hermann markiert den ersten Stich mit der Infektions-Nadel. Das von Hans-Werner Kroesinger in Szene gesetzte Musiktheater zeigt verschiedene Charaktere in politisch motivierter Haft und reflektiert über deren Wahrnehmungszustand. Die textlichen Grundlagen stammen u.a. von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff, dem im Gulag umgekommenen russischen Dichter Ossip Mandelstam und der iranischen Publizistin Fahimeh Farsaie, über die die Fatwa verhängt wurde. Verstärkt durch die klinisch-saubere, beklemmende Inszenierung sieht der Zuschauer, wie durch ein Kaleidoskop der Isolation, auf die Gedanken der so unterschiedlichen Charaktere. Dabei kann er deren Metamorphosen in einer Leere, die sich langsam ins Unerträgliche steigert, in der Musik nachvollziehen. Oder wie Meinhoff es formulierte: „Da man die Stille nicht bekämpfen kann, kann man nur das bekämpfen, was mit einem, an einem selbst passiert – schließlich bekämpft man nur noch sich.“ Dass dieses Stück nicht im großen Saal, sondern in der kleineren, intimen Werkstatt aufgeführt wird, ist da umso passender.
Ebenfalls in der Werkstatt, dafür wesentlich sachlicher präsentiert sich „ANS“ (Autonomes Nervensystem). Die Komponistin Irini Amargianaki geht dabei mit einer multimedialen Mischung aus Konzert, Installation und Schattentheater den Funktionen des menschlichen Gehörs auf den Grund.

Herzschlag, Atem, rauschendes Blut: Das Unhörbare wird Musik.

Den Mittelpunkt des Festivals bildet das Stück „Luci mie traditrici“ von Salvatore Sciarrino in der Inszenierung von Jürgen Flimm. Die Kammeroper basiert auf der Tragödie „Il tradimento per l`onore“ von Giacinto Andrea Cicognini und erzählt – ohne Namen zu nennen – vom tragischen Ehrenmord des Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo da Venosa am Liebhaber seiner Frau. Sciarrino kehrt diesen zwischenmenschlichen Abgrund mit gespenstischem Minimalismus nach Außen. Hass, Eifersucht, Liebe und Sinnlichkeit werden hier durch die feinfühlige Verknüpfung von Renaissancemusik und zeitgenössischer Tonsprache auf dem Silberteller serviert. Dabei spielt vor allem die Instrumentalisierung zwar akustisch in der Regel nicht wahrnehmbarer, physisch aber spürbarer Ereignisse eine wichtige Rolle: Organische Vorgänge – im wahrsten Sinne des Wortes – wie stockender Atem, starkes Herzklopfen und in den Venen rauschendes Blut werden musikalisch hörbar gemacht und erweitern das Musiktheater sozusagen um eine vierte Dimension.

„INFEKTION! – Festival für Neues Musiktheater“ läuft noch bis 16. Juli an der Staatsoper im Schillertheater in Berlin-Charlottenburg. Am 10. Juli um 19.30 Uhr feiert die Sciarrino-Produktion hier Premiere – eine gute Alternative für alle, die dem EM-Finalspiel-Rummel entkommen möchten! Weitere Informationen und Tickets gibt es auf www.staatsoper-berlin.de


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