Von Konrad Bott, 03.04.2018

Grauzone des Herzens

Musik, die mich bereichert, und Musik, über die ich mich definiere – da gibt es einen Unterschied. Wie viel will ich einer anonymen Öffentlichkeit zeigen? Eine Playlist, die von Herzen kommt, ohne es dabei auszuschütten...

Offenzulegen, was man hört, bedeutet offenzulegen, wer man ist. Das ist keine pathetische Phrase, kein esoterisches Credo, es ist eine Tatsache. Ich möchte meine Persönlichkeit nicht zum Ausstellungsobjekt machen. Ich möchte Musik, die für mich buchstäblich existenziell wichtig ist, nicht öffentlich anpreisen. Musik empfehlen will ich trotzdem liebend gern. Deshalb habe ich Stücke und Interpretationen ausgewählt, über die zu streiten ich jederzeit bereit bin.

Der erste Track trägt eine Kühle in sich, die meinen Musikgeschmack laut einer Freundin durchzieht. Er stammt von einem Trio, dessen Namensgeber, der Pianist Esbjörn Svensson, im Jahr 2008 bei einem Tauchunfall in der schwedischen Heimat tödlich verunglückte. Svensson fasziniert mich, weil er mühelos essenzielle Eigenschaften von Jazz und Klassik vermengt, ohne dabei hinkende Hybridmusik zu fabrizieren. Die kleinen Notenwerte die im jeweiligen Akkord auf engstem Raum gefangen sind, sirren unruhig von links nach rechts, schweben, tanzen in einem fort. Sie werden begleitet von Magnus Oströms unfassbar exaktem Snare-Drum-Mantra, bei dem ihm die Besen unter den Fingern geglüht haben müssen. Bassist Dan Berglund streicht über die elektronisch verzerrten E-Bass-Saiten und entlockt dem großen Instrument hilflos klagende Laute, die mir jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Ich habe die Formation einmal als Kind live erlebt und werde das niemals vergessen.

Noch Entsetzen, schon Trauer oder bald Wahn?

Klagende Streicher begegnen uns auch bei der Muzyka Zalobna, der Trauermusik im Gedenken an Béla Bartók von Witold Lutosławski. Allerdings in diesem Fall wesentlich weniger entfernt und hilflos klingend, sondern unausweichlich, bisweilen in brutalen Wellen. Ein Kokon, gewoben aus ineinander fallenden Tritoni 95 . Es frappiert mich, dass diese Aufdringlichkeit der Tonsprache gleich zu Beginn der Trauermusik ertönt – ist das noch Entsetzen, schon Trauer oder bald Wahn? Kaum will ich mich an dieser Frage festbeißen, bricht alles in sich zusammen. Ein stoisches Pizzicato 76 tritt auf, in Begleitung wenig gefälliger, aber durchaus versöhnlicher Kantilenen 60 . Erlösung? Nur Verschnaufpause! Denn mit dem, was passiert, nachdem die tiefen Streicher immer wieder quer in den Gesang der Violinen schneiden, ist die Gänsehaut vom Anfang nicht zu vergleichen. Hört selbst!

  1. In Deutschland meint man es mit der Kantilene gut: Es ist eine Melodie, meist sehr getragen im Charakter, und sie verfolgt einen den ganzen Tag. Ein Ohrwurm? Ja, oder vielleicht ein Ohrwurmfetzen. In Italien ist der Begriff eher diffamierend und bezeichnet eher abfällig abgedroschene Lieder. (CW)

  2. „Pizzicare“ bedeutet auf Deutsch „Zwicken“. Zum Glück geht´s nur um die Saiten, die beim Pizzicato mit den Fingern gezupft, statt mit dem Bogen gestrichen werden. Jazz-Kontrabassisten pizzen sich gern die Seele aus dem Leib. Aber auch in Oper und Konzert lockerte diese Technik schon immer die gestrichene Eintönigkeit auf. (AV)

  3. Das ist der Teufel im Ohr! Um den Teufel der Intervalle heraufzubeschwören, braucht man drei Ganztöne, dann klingt es schauerlich. Eigentlich darf sich nur die übermäßige Quarte so bezeichnen, aber auch das Komplementärintervall wird unter der Hand der Musikwissenschaftler so betitelt. Wie klingts? Mar-ia aus der West Side Story. (CW)

Wir reduzieren die Besetzung und kommen zu einem Pianisten, dem ich die viele Anerkennung, die ihm zuteil wird, herzlich gönne. Kristian Bezuidenhout ist der Grund, weshalb ich mich nach jahrelanger Hassliebe tatsächlich mit Mozart anfreunden konnte. Die Gesamtaufnahme von Mozarts Klavierwerken, die der Südafrikaner 2016 abgeschlossen hat, ist für mich unübertroffen, und bei derart oft eingespielten Werken will das schon was heißen. Er streift jegliches Pathos eines großen Pianisten, der den großen Mozart spielt, von sich ab. Wir sind stattdessen alleine mit ihm und seinen Gedanken, seinen Vorschlägen zur Musik. So spielerisch wie möglich, so ernst wie nötig bewegt er sich auch durch die c-Moll-Fantasie und hinterlässt bei mir den Wunsch, das Stück endlich mal selbst anzugehen.

And now for something completely different: Thomas Adès, ein wundervoll vielseitiger Komponist aus London. Von den sieben Sätzen seines Streichquartetts „Arcadiana“ gleicht keiner dem anderen. Miniaturen, die in ihrer ungleichen Gestalt alle möglichen Spiel- und Kompositionstechniken beinhalten. Der sanfteste dieser Sätze, „O Albion“, ist eine simple, brave, ja schüchterne Komposition, die mich aber zutiefst berührt. Vielleicht, weil sie nicht versucht, mehr zu sein, als genau das: drei Minuten völliges In-sich-gekehrt-sein. Zugegeben, sowas klingt immer stark nach Avo Pärt, aber Thomas Adès kann mehr. Einfach mal querhören!

Nachdem ich bereits Kristian Bezuidenhout so angepriesen habe, möchte ich auch noch eine Lanze für die Pianistin Tamara Stefanovich brechen. Ich muss gestehen, dass mir ihre Person genauso sympathisch ist wie ihre Interpretationen. Die Trennung zwischen Arbeit und Person ist bei ernst zu nehmenden Musikern ohnehin selten möglich. Ihre wachsame Sensibilität und die Fähigkeit, ordentlich zupacken zu können, machen Ihre Einspielungen von Béla Bartóks Burlesken für mich so besonders. Eine knackige Adrenalintour, die auch in den schärfsten Kurven nichts von ihrem überlegenen Charme einbüßt – und für die ich sehr dankbar bin.

Ein unerbittlicher Druck auf den ganzen Körper ...

Eine Playlist von mir kann unmöglich schließen ohne zumindest einen Titel aus der derben Stromgitarrenwelt. Es ist nach so vielen Jahren, in denen ich mit dem, was sich „Metal“ nennt, mitgewachsen bin, gar nicht leicht, neue Sachen zu entdecken, die mich wirklich beeindrucken. Vor nicht allzu langer Zeit bin ich aber auf das belgische Quartett „Emptiness“ gestoßen und jetzt noch immer hellauf begeistert. Sein Sound trifft mich mit seiner eigentümlichen Mischung. Zum einen atmen die Aufnahmen eine luftige Schwerelosigkeit, zum anderen erzeugen sie in mir aber gleichzeitig das Gefühl eines unerbittlichen Drucks auf den ganzen Körper, einem Tauchgang nicht unähnlich. Diese Art des körperlichen Erlebens von Musik ist für mich schon immer sehr wichtig gewesen und wird es weiterhin bleiben.

© Konrad Bott


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