Von Carsten Hinrichs, 11.11.2017

Gebrauchs-Musik

Kurztrip nach London: Schlangen vor den Museen, Schietwetter, Dauersirenen – bis mich plötzlich ein Orgelton trifft und die Zeit stillsteht. Ganz so, wie es mal gedacht war.

Es sollte Urlaub sein, doch es entpuppt sich als Stress: Aus Victoria-Station raus, dann zu Fuß an Westminster Abbey vorbei, Handyknips, mal Hoch-, mal Querformat. Und schon geht es weiter ins mächtig rotierende Herz Londons. Auch schlechte PR ist PR, und so hat mich der Brexit daran erinnert, dass es in London ein paar Kulturschätze gibt, die ich unbedingt wieder anschauen wollte, bevor vielleicht alles anders wird.

Aber der Takt auf den Straßen, die Getriebenheit der Menschen in der City of Westminster, vor allem die Informationsdichte, mit der in den U-Bahn-Verbindungsgängen Werbung auf den Passanten einprasselt, schnüren einem Kultur-Savant wie mir die Kehle zu. Piccadilly Circus ist ein einziger Albtraum aus grell-flackernden Werbeleinwänden, die in den zuhauf gereckten Selfie-Displays ihr synchrones Echo finden. In Konkurrenz dazu haben Straßenmusiker ihre ausgefranst krächzenden Boxen so laut aufgedreht, dass das theaterartige Rund nur so dröhnt, angefacht vom mehrspurigen Autoverkehr. Der Wochenendauftakt endet für mich in Missmut und Enttäuschung.

Die Kathedrale, von mir eben noch in Zahlen und Bildhauernamen taxiert, wird durch Musik zum Wächter einer alten, höchst lebendigen Tradition.

Und dann kommt der Sonntag. Mein Weg führt mich quer durch die City of London, vorbei an der alten Börse und der Nationalbank bis zu St. Pauls. Die Türen stehen offen, nach einem Rucksack-Check darf ich frei passieren. Wie, wo bleiben die angekündigten, saftigen 15 £ Eintritt? Dann begreife ich – die Messe ist in vollem Gange. Die herumirrenden Touristen, mit zum Kirchendach hin überstreckten Hälsen, werden durch Kordeln gestoppt – und zwei ältere Ladies in Kirchenuniformen, mit Gesangszetteln in der Hand. Keine Verbiesterung, keine moralinsaure Herablassung, nur selbstbewusste Freundlichkeit. Wer teilnehmen möchte, ist herzlich eingeladen Platz zu nehmen, egal welcher Konfession. Ich sehe von ferne rote Messgewänder und die Hinterköpfe der Andächtigen. Schade, ich hätte mir die Kirche gerne näher angesehen. Da brummt im Querschiff das Orgelpedal auf, gefolgt von mächtigen Akkorden, und aus der Höhe der Kuppel setzt der Chor ein. Sein Klang kitzelt fühlbar in der Magengrube, trifft mich wie ein Donnerschlag. Ich bleibe augenblicklich stehen, möchte nur noch lauschen und die Atmosphäre aufnehmen. Alle Hektik fällt von mir ab, die Kathedrale, eben noch wie ein Museum in Zahlen und Bildhauernamen taxiert, wird durch die Musik zum Wächter einer alten, noch höchst lebendigen Tradition. Nach all den Fassaden und Sehenswürdigkeiten bin ich plötzlich, zum ersten Mal bei meinem Besuch, Teil des echten Lebens der Stadt. Denn hier feiern ein paar Einwohner, direkt neben dem Finanzhai-Distrikt mit seinen gleißenden Aquarien, den Gottesdienst. St. Paul’s verfügt mit Chor und Orchester über luxuriöse Möglichkeiten der Ausgestaltung, heute gibt es die ganze Messe D-Dur von Antonín Dvořák. Nicht entbeint und dressiert für den Konzertsaal, sondern eingebunden in die Liturgie, für die sie entstanden ist.



Der Gesang überragt in der Qualität jeden Kirchenchor, den ich kenne, aber dennoch scheint er sich hier jeder professionellen Beurteilung zu verwehren. Vielmehr gewinne ich bei dieser Messe und dem Engagement der Kirchenmusiker den Eindruck, einen ihnen vertrauten Alltagsgegenstand vor mir zu haben, Musik in Benutzung, das Messing der Soprane klingt wie liebevoll für den Sonntag aufpoliert. Ich höre die Klänge an meinem Standort vom Hall verwaschen zu fast modernen Clustern, sie erreichen mich, in den Chorälen gemischt mit dem stets halbtaktig nachschleppenden Gemeindegesang, vom Volumen des unfassbar großen Kirchenraumes überhöht. Und dennoch lösen sie in mir, der ich überhaupt kein Anglikaner bin, ein Gefühl von Angenommen- und Angekommensein aus. Was für eine schöne, unerwartete Erfahrung in dieser Stadt.

Nach dem Abendmahl bewegen sich die Kustoden, die gerade noch den Mittelgang gehütet haben, durch die Reihen der Touristen, die lieber stehengeblieben sind, und eine ältere Frau mit aufgeräumtem Gesicht streckt mir freundlich die Hand zum Friedensgruß entgegen – „Peace be with you“. Ich nehme gerne an, und wahrscheinlich ahnt sie gar nicht, wie unmittelbar ihre Worte meinen Zustand in diesem Moment beschreiben.


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