Von Malte Hemmerich, 21.07.2017

Kein Gott mehr

Er liebt Schostakowitsch und ist in Liverpool und Oslo bei großen Orchestern zuhause. Was braucht ein moderner Dirigent noch mehr? Vasily Petrenko spricht im niusic-Interview über Currentzis, Kitsch und wie ein Skandal seine junge Karriere beschädigte.

Vasily Petrenko, auch bekannt als der andere Petrenko, hat gerade seine Probe mit dem WDR-Sinfonieorchester beendet und sitzt jetzt etwas hibbelig in der großen Künstlerumkleide. Er trägt eine rote Chinohose und ein blau kariertes Hemd, strahlt erstmal wenig Strenge und Anführerqualitäten aus. Der Dirigent der jüngeren Generation (geb. 1976) ist ein grandioser Interpret des russischen Repertoires und nimmt gerade die Skrijabin-Sinfonien auf. Für Schostakowitsch und Tschaikowski-Aufnahmen wurde er gelobt und ausgezeichnet und ist mittlerweile Chefdirigent in Oslo und Liverpool. In die Weltspitze der exquisiten Pultmeister wurde er bisher noch nicht aufgenommen, warum eigentlich? Nach einem kurzen Abstecher zu seinen Anfängen am legendären Konservatorium in St. Petersburg kommen wir direkt zum Thema:

niusic: Herr Petrenko, Sie wirken gar nicht wie ein auratischer Maestro. Ist der „moderne“ Dirigent ein anderer?

Vasily Petrenko: Ich bin kein Gott. Diktatoren unter den Dirigenten sterben aus. Dabei wird der Job eher komplexer als einfacher. Nicht unbedingt musikalisch, aber im sozialen Bereich. Sponsoren suchen, Projekte etablieren, Früherziehung, Musiker beraten. Es ist viel Arbeit, als Chefdirigent das Gesicht einer ganzen Firma zu sein.

niusic: Was ist die wichtigste Eigenschaft, die man dann heute als Dirigent mitbringen muss?

Petrenko: Respekt. Vor dem Publikum, den Musikern und dem Komponisten.

niusic: „Respekt vor dem Komponisten“ ist aber kein Leitsatz Ihrer Generation, oder? Was sagen Sie beispielsweise zum In-Dirigenten Teodor Currentzis, der gern mal alles „anders“ spielt?

Petrenko: Teodor und ich haben ja zusammen studiert. Ich glaube, er ist ein sehr talentierter Mann. Ich wünsche mir oft, ich hätte sein unglaubliches Selbstbewusstsein, diese Einstellung: Nur ich kann das so. Nun, das glaube ich persönlich übrigens nicht, es gibt so viele gute Musiker auf der Welt. Ich respektiere seine Herangehensweise und mache es anders. Er läuft wohl manchmal Gefahr, dass bei all dem Aufblitzen, der Deklaration die Essenz dahinter gar nicht mehr da ist. Hm.


„Ein Krankenhaus kann kurieren, ein Konzerthaus kann Krankheiten vermeiden."

Vasily Petrenko

niusic: Haben Sie ein Vorbild?

Petrenko: Nein. Ich bin glücklich, die größten Dirigenten getroffen zu haben: Leonard Bernstein, Valery Gergiev und Mariss Jansons. Und ich habe mir von allen ein bisschen mitgenommen, nicht kopiert, assimiliert. Georg Solti sagte mir einmal: „Junger Mann, ich wünsche dir, dass Musik immer dein Hobby ist.“ Er hat Recht, wenn es dein Hobby ist, kannst du die 12 Stunden durchhalten, siehst du es aber als Beruf, wird dein Leben schrecklich. Das verstehe ich jetzt immer mehr.

niusic: Und ist Ihr „Hobby“ noch wichtig für die Gesellschaft?

Petrenko: In Amerika habe ich in einer Diskussion gesagt: Ein Krankenhaus kann Krankheiten kurieren, ein Konzerthaus kann sie vermeiden. Überlegt, was ihr baut. Tja, was ist wertvoller? Der Effekt von Kunst für die Gesellschaft kann eben nur schwer berechnet werden. Es ist wichtig, absolut überzeugt von unserer Sache, der Musik, aufzutreten.
In Liverpool werden die Schüler besser, wenn sie an unseren Musikprojekten teilnehmen. Das ist so. Du musst eben 20 Jahre investieren, dann hast du Resultate, die eine Gesellschaft verbessern. Wahlen sind alle vier Jahre, das ist das Problem.

niusic: Oh, sind Sie denn politisch?

Petrenko: Nein, würde ich nicht sagen, ich habe nicht genug Zeit ...

niusic: ...

Petrenko: ... Na gut, also Dmitri Schostakowitsch hat unter anderem den Zar, Lenin, Stalin, Chrutschow, zwei Kriege und Revolutionen mitbekommen. Dauernd änderte sich die Politik. Jetzt ist alles Geschichte, nur seine Musik ist für uns da und aktuell. Selbst die lächerlichste Politik geht vorbei, Kunst bleibt.



niusic: Hätte Schostakowitsch anders komponiert unter besseren politischen Umständen?

Petrenko: Schwer zu sagen. Ich glaube, hätte er seine ehrliche vierte Sinfonie veröffentlichen können, die übrigens klingt wie Gustav Mahler zu dieser Zeit wohl komponiert hätte, wäre er einen anderen Weg weitergegangen, ja.

niusic: Ist es denn bei ihm besonders wichtig, seine Werke im Kontext zu sehen?

Petrenko: Naja, bei Beethoven muss man genauso auf den Kontext achten, Mahler, Strauss. Vielleicht ist der Unterschied, dass wir aus seiner Zeit viel mehr Informationen und Quellen haben. Ein guter Dirigent forscht immer im geschichtlichen Kontext. Noten sind bloß Symbole, die Botschaft der Musik lässt sich nicht daraus allein ablesen.

niusic: Ein anderes Ihrer Steckenpferde ist Tschaikowski, der kitschige Klischee-Komponist, so die landläufige Meinung ...

Petrenko: Tschaikowski war ein kluger Philosoph. Er entdeckte den Kampf zwischen Tod und Leben neu in seinen letzten Sinfonien. Alle geben unterschiedliche Antworten. Es ist kein Kitsch, kein Klischee. Natürlich wurde „Schwanensee“ schlecht gespielt und übergespielt, dann wird es ein Klischee. Ich spiele viel Tschaikowski und finde immer etwas, das man verändern kann. Es ist tatsächlich keine Musik, die man leicht gut spielen kann.

„Auch wenn man positive Dinge sagt, können diese heute sofort pervertiert werden!“

Vasily Petrenko

niusic: Sind es eigentlich nur die Skills, die einen Dirigenten zum Star machen, oder warum ist der fast gleichaltrige Yannick Nézet-Séguin soviel bekannter als Sie?

Petrenko: Viele Faktoren machen das aus. Erfolg wird zu 90 Prozent von der Arbeit bestimmt, 9 Prozent vom Talent und 1 Prozent ist Glück. Also auch, wenn du gut arbeitest und Talent hast, liegt ein Prozent außerhalb deines Machtbereichs. Aber heutzutage ganz ehrlich: Was bleibt denn am Ende als Vermächtnis bestehen? Die wirklich guten unserer Aufnahmen und die Projekte, die wir machen. Das ist wichtiger, als ein „Star“ zu sein. Wir Dirigenten werden heute nicht mehr reich wie Bill Gates, aber können gut leben. Dann noch glücklich zu sein und sein Hobby zu machen, ist doch alles gut.

niusic: Also fehlt Ihnen nichts?

Petrenko: Doch. Ich wünschte, ich könnte mehr Menschen überzeugen und erreichen. Nicht, dass sie mich verehren, aber dass ich überzeugend bin, wenn ich sage: Komm und höre einmal, es ist wunderbar!
So viele Leute nutzen nicht einmal im Leben die Chance, unsere Musik zu hören.

niusic: Man muss eben Zeit investieren ...

Petrenko: Am Handy daddeln ist einfacher, weiß ich. Ich glaube aber, es ist nicht Zeit, die fehlt. Es sind Prioritäten, die man setzt. Als Student hast du halt andere Prioritäten, danach sind es die Familie und die Arbeit. Erst wenn die Kinder aus dem Haus sind, haben Leute wieder eine Freiheit. Und dann müssen Sie sich eben an ihre frühen schönen Erfahrungen mit der Klassik erinnern.

niusic: Vor einigen Jahren gab es einen Skandal um Sie. Sie wurden mit einem abfälligen Zitat über Dirigentinnen zitiert, es gab Rücktrittsforderungen. Was war genau passiert?

Petrenko: Die Frage war, warum so wenig Frauen dirigieren. Und ich sagte, dass meiner Erfahrung nach manche Gesellschaften Frauen nicht als Dirigenten akzeptieren. Die Situation kenne ich von meiner Frau, die zufälligerweise selbst Dirigentin ist!
Die norwegische Zeitung wollte wohl einen Skandal und druckte nur ein kleines Zitat, der Guardian übersetzte es, und dann ging es los. Letztendlich muss ich es positiv sehen: Es gab viel Aufmerksamkeit für diesen Bereich, und ich habe jetzt eine gute Beziehung zur Dirigentin Marin Alsop und ihrem Förderprojekt.


niusic: Und wie ist nun die Position der Frauen, die Dirigent werden wollen?

Petrenko: Das ändert sich gerade. Junge Frauen versuchen es immer mehr, ich kenne einige gute Dirigentinnen. Genauso war es ja auch mit Frauen in Orchesterpositionen. Ich bin übrigens da gegen jede Quotenregelung. Es sollten die Fähigkeiten zählen, Geschlecht hat nichts damit zutun.

niusic: Hat dieser Skandal Ihrer ganz großen Kariere geschadet, Chancen verbaut?

Petrenko: Ja, wahrscheinlich. Man kann es jetzt schwer sagen. Eins dieser Dinge, die ohne eigenen Einfluss passieren. Zu der Zeit habe ich dann erkannt, wer meine wahren Freunde sind. Leute, die mich kennen, wussten, dass die Geschichte anders sein musste.

niusic: Aber da war schon alles im Umlauf ...

Petrenko: Und die Hater sind immer lauter als die stillen Vernünftigen! Das ist so erschreckend heutzutage: Auch wenn man positive Dinge sagt, können diese sofort pervertiert werden und im falschen Kontext einen Shitstorm auslösen, der nicht mehr aufzuhalten ist. Das hält Leute doch davon ab, überhaupt noch etwas zu sagen! Sprich an einem öffentlichen Ort über Flüchtlinge und sag: Wir sollten sie alle aufnehmen, sie alle töten, die Grenzen schließen. Egal, was du für eine These in den Raum stellst, unglaublich viele Leute bleiben still. Als hätten Sie keine Meinung mehr.

niusic: Sie sind bei allem, was Sie sagen, ja auch noch öffentliche Person.

Petrenko: Stimmt. Letzte Nacht sah ich den Film Amy, über Amy Winehouse. Der Druck der Öffentlichkeit, das Interesse, die Massenmedien und Paparazzi, das hat sie depressiv gemacht.
Da ist die Klassikwelt, zum Glück, mal wieder anders. Ich kann in Liverpool und Oslo rumlaufen ohne Bodyguards und werde nicht von Selfie-Jägern verfolgt.

© Marc McNulty


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