Von Malte Hemmerich, 23.06.2017

Der Ungläubige

Malte Hemmerich besuchte kurz vor der Premiere die „Rheingold“-Proben in Düsseldorf und traf Regisseur Dietrich Hilsdorf zu einem ehrlichen Gespräch. Warum inszeniert er Wagner, wenn er ihn nicht leiden kann, und warum verachtet der Regisseur Aktualisierungen? Fest steht: Die drei Nornen und auch Georges Bizet könnten Hilsdorf verklagen.

„Mal schaun, wie weit wir kommen“, spornt Axel Kober seine Düsseldorfer im Orchestergraben noch scherzhaft an. Es soll eine „Rheingold“-Durchlaufprobe werden mit vollem Orchester, Sängern in Kostümen im Bühnenbild. Alle Beteiligten starten mutig in den berühmten minutenlangen Es-Dur-Dreiklang. Sie schaffen es bis zum Spitzenton der drei Rheintöchter im letzten Gewallalaweiae, bevor Kober abbricht.

Nicht nur, weil im Vorspiel die Hörner noch unschön fiepten und die Rheintöchter nicht punktgenau mit dem Orchester sangen. Sondern weil das Hebepodest, auf dem der Bayreuth-erfahrene Generalmusikdirektor seine ruhigen, klaren Gesten vollführt, immer weiter absackt. Die Zuschauer der öffentlichen Probe tragen das Erneute von vorn Ansetzen der Zweieinhalbstunden mit Fassung, wie auch Regisseur Dietrich Hilsdorf, der am Technikpult in der Saalmitte herumfuhrwerkt, auf den Laptop und dann wieder in sein Aufzeichnungswirrwarr schaut. Sind für ihn die zusätzlichen Musikminuten eine besondere Qual?
Ohne mit der Wimper zu zucken hatte Hilsdorf im Werkstattgespräch vor der Probe Wagners Leitmotivtechnik als banal abgetan und zugegeben, auch sonst nicht viel mit den Ansichten Wagners anfangen zu können. Eine ehrliche, wie leicht befremdliche Aussage für einen, der bis ins nächste Jahr hinein die gesamte „Ring“-Tetralogie Wagners in Düsseldorf und Duisburg inszenieren wird.

Der Regisseur Dietrich W. Hilsdorf:

Dietrich W. Hilsdorf ist einer der aktivsten Musiktheaterregisseure unserer Zeit. Seine Mozart- und Verdi-Inszenierungen setzten Maßstäbe und wurden von Kritik und Publikum gefeiert. Viel gearbeitet hat er in NRW, vor allem in Gelsenkirchen, Düsseldorf, Essen und Bonn.

niusic: Herr Hilsdorf, die Musik Richard Wagners ist also banal?

Dietrich Hilsdorf: Das muss ich erläutern: Mit 28 habe ich in Bayreuth den Jahrhundertring gesehen und habe mich gewundert, dass Leute sich darüber irgendwie aufregen. Daraufhin spielte ich die Motive am Klavier. Mein Gott, dachte ich, was ist denn das für eine merkwürdige Musik, das ist gar kein richtiger Komponist. Trotzdem wollte ich es danach inszenieren. Dann lernte ich Wagner weiter kennen, und er war mir zuwider. Später habe ich den Ring zweimal abgelehnt, immerhin, da könnte die Familie ein ganzes Jahr lang gut von Leben. Hier hab ich mich jetzt von selbst gemeldet.

niusic: Und widmen Wagner jetzt soviel Lebenszeit. Dafür müssen Sie sein Gesamtkunstwerk ja zumindest respektieren.

Hilsdorf: Muss ich, sonst wird das ja Quatsch. Der Mann hat unglaublich viel erschaffen! Ich finde die Methode nur meist billig. Deshalb ist es ja auch so erfolgreich. Genau wie „Carmen“, so furchtbare Musik: daaam dam dam dam dam, öh öh, daaam dam dam dam dam, öh öh, so banal wird da ein Spanienbild erschaffen, dass es nicht gibt. Warum inszeniere ich das trotzdem? Ganz einfach: Wenn es jemand anders macht, wird es noch schlimmer.

niusic: Wagners Musik kann rauschhaft sein, das torpedieren Sie nun aber nicht, oder?

Hilsdorf: Wagner war ein kleiner Sachse, ein nerviger Frauenschwarm, der wusste, wie er wirken konnte. Das muss man ihm lassen, Wagner ist mit Text und Musik in Verbindung so meisterhaft umgegangen, wie vor ihm vielleicht nur Heinrich Schütz. Und nein, um Gottes willen, ich arbeite nie gegen Musik! Aber so oder so kann am Ende doch niemand sagen: Jetzt ist der Ring kaputt. Denn ein halbes Jahr später geht es ja irgendwo am nächsten Theater wieder los.

niusic: Nun haben Sie es aber im „Rheingold“ noch nicht mal mit Menschen, sondern mit Mythen und Göttern zu tun.

Hilsdorf: Diese Götter haben mich überhaupt nicht interessiert. Brecht sagt: Gegenstand jeder Untersuchung ist der Mensch. Und auch Götter stehen für etwas. Und ja: Es geht hier um Mythen, aber der Feind des Mythos ist die Recherche. Deshalb haben wir uns Kunstwerke von Max Ernst und Romane von Émile Zola aus der Zeit als Reibungsfläche geholt. Ich habe Börne und Heine gelesen, um gegen diese merkwürdige deutsche, manchmal auch antisemitische Gestaltung anzugehen.

niusic: So recht verstehe ich es jetzt immer noch nicht, warum Sie den Ring machen ...

Hilsdorf: Es kann zu guten Ergebnissen führen, sehr distanziert an eine Sache heranzugehen, ein Beispiel: Hier in Düsseldorf habe ich einmal die Ariadne bekommen. Ausgerechnet diesen Käse! (lacht) Dann habe ich mich aber ehrlich drum gekümmert, und Publikum und Kritik waren begeistert. Abstand und sogar Widerstand sind eher sinnvoll, und so wird es beim „Ring“ nun auch. Übrigens bin ich nicht allein, wenn ich mich in diese Welt begebe.

Begleitet wird Hilsdorf dabei von seinem Bühnenbildner Dieter Richter und eben jenem Axel Kober, der gerade im zweiten Anlauf souverän und mit großer Lust zum zweiten Mal durch die Rheintöchterszene leitet. Und obwohl die beiden Größen zumindest in ihrer Sicht auf Wagners Musik ziemlich diametrale Meinungen vertreten, geben sie sich bei jeder Gelegenheit als vertrautes, eingespieltes Team. Hilsdorfs Inszenierung scheint erst in einer Art Bordell zu spielen, im „syphilitischen Rheinschlamm“, wie er es selbst nennt. Später dann ein gutbürgerliches Haus des 19. Jahrhunderts. Die Götter laufen in schicken langen Mänteln über die Bühne, die Riesen mit Zylindern, die wie Industrieschlote anmuten. Viel erinnert an Chereaus Jahrhundertring, und auf Nachfrage nennt Hilsdorf dessen Deutung mit Bezug auf George Bernard Shaw auch als „richtige Brille“. Und dann ...

niusic: Bei Ihnen gibt’s ja noch Speer und Hammer!

Hilsdorf: Der Speer ist ein Symbol, das eigentlich niemand mehr sehen will. Deshalb hat Wotan ja auch einen Getreidehalm in Stuttgart, und die Kritik jubelt. Doch das Symbol wird nur ersetzt durch ein anderes. Ich sag da immer: Schon das Symbol selbst ist mir zu viel. Wenn ich mit meiner Frau Sex habe, stell ich mir nicht vor, dass sie eine Vase ist. Da bin ich anders gestrickt: Ich sage rot ist rot und aus. Trotzdem gibt es bei uns diese Collagen von Ernst, und man fragt sich viel, wie bei Beckett ...

niusic: Grundkonflikte sind aber hoffentlich auch sichtbar für Menschen ohne umfassendes Hintergrundwissen.

Hilsdorf: Ich sagte damals bei meinem „Ödipus“: Uns sollen auch die Ziegen verstehen. Damit meinte ich nicht Frauen im Theater, sondern die Ziegen, die in Griechenland von der Wiese aus zugucken.

niusic: Es gibt aber schon ein Gesamtkonzept für den ganzen „Ring“? Also einen Kreislauf, dass Loge den Vorhang öffnet und schließt zum Beispiel ...

Hilsdorf: Nein. Das finde ich ganz furchtbar, das hasse ich. Wenn nach einem Shakespeare-Stück die Botschaft meiner Regiekollegen ist: Wir sind jetzt am Ende soweit wie am Anfang. Furchtbar! Denn eins sind wir mindestens, nämlich vier Stunden älter. Wir denken teleologisch, also auf ein Ziel gerichtet, und haben früh festgelegt, den „Ring“ nicht zu schließen. Wir wollen so tun, als würden wir das Ende nicht wissen, deshalb haben wir jetzt auch noch keine Ahnung, wie wir im nächsten Jahr die „Götterdämmerung“ auf die Bühne bringen ...

niusic: ... aber ...

Hilsdorf: Ich weiß. Wenn auch mein Regieassistent dann jammert: „Aber in der Götterdämmerung sagen doch die Nornen ...“ Dann sag ich: Ich glaube nicht, was drei alte Vetteln mir da erzählen. Glauben wir denn einfach Erdas „Alles, was besteht, vergeht“?? Äh, das ist doch unwissenschaftlich, alles besteht zumindest als Energie weiter.

niusic: Sie sind kein Freund der Mythologie.

Hilsdorf: Ich glaube einfach den Figuren nicht! Lasst mich doch in Ruhe, ich weiß noch nicht mal, ob ich diese ollen Nornen auftreten lasse. Vor acht Wochen wusste ich einige Dinge noch überhaupt nicht. Wagner ist das Gegenteil: Alles schrecklich vorbestimmt mit den Leitmotiven und so weiter, furchtbar, ein Lebensentwurf, der mir fern ist, naja ...

niusic: Hatten Sie denn im Arbeitsprozess nie Angst, dass Sie einfach nicht der Richtige sind für den Ring?

Hilsdorf: Ja, das ist ... (zögert). Manchmal doch. Gestern dachte ich, als ich alles so zusammen sah: Es ist merkwürdig geworden. Hoffentlich denkwürdig. Es ist viel Ernst, viel Samuel Beckett. Es ist soviel Einsamkeit. Mal schauen.

niusic: Sie schaffen sich hiermit auf jeden Fall ein Vermächtnis. Trotzdem: Ein Kollege sagte mir vor Kurzem „Hilsdorf, der ist doch ein rheinisches Phänomen und schaffte es nie an großen Häusern“. Was sagen Sie da ...?

Hilsdorf: Es gibt Gründe dafür. Große Häuser sind über Agenten vernetzt, ich bin in keiner Agentur. Außerdem habe ich auch Angst vor den berühmten Häusern, die geben mir mit den vielen Gastsängern nicht die Chancen, die ich will. Ich brauche Leute acht Wochen um mich. Übrigens habe ich auch so gut gelebt und an meinen mittelgroßen Häusern wahrscheinlich mehr verdient als Ihr Journalistenkollege (lacht).

In der Probe bricht ein Stuhl unter Wotan zusammen, er wird mehr oder weniger unauffällig ausgetauscht. Es bleibt irgendwie alles etwas unrund. Die Schwere eines neuen „Rings“ scheint doch durch. In der Hotellobby bleibt derweil noch kurz Zeit herauszufinden, was uns die Neuinszenierung des Regisseurs nun wirklich sagen will. Denn nach den ersten beiden Szenen, dich ich sehen konnte, bleibt da noch etwas Ratlosigkeit.

niusic: Nochmal abschließend zum Ring. Wer ist Trump? Oder anders: Was ist aktuell an Ihrer Inszenierung?

Hilsdorf: Nein, ich habe gar nicht „aktualisiert“. Ist ja fürchterlich, schließlich soll in zwanzig Jahren dieser Ring hier immer noch laufen können! Die ganzen aktualisierten Opern meiner Kollegen finde ich traurig, aufgrund ihrer Verfallsdaten. Sind ja manchmal nur zwei Monate.

niusic: Aber es muss uns was angehen heute!

Hilsdorf: Auch Kostümfilme, die im 18. Jahrhundert spielen, haben Lügen, Intrigen und Kriege, da brauch ich kein Motorrad im Hintergrund, um mich an unsere Zeit zu erinnern. Unsere Zeit ist nicht so wichtig, da ist nicht viel Gutes. Eher: Überheblichkeit, Dummheit.

niusic: Ist das etwa ein Herbeisehnen der „guten alten Zeit“?

Hilsdorf: Nein, ich halte es mit Botho Strauß, der sagt: Diese Zeit sammelt alle Zeiten ein. Wir können alle Musik hören, alle Kunstwerke sehen. Unsere Zeit sammelt alle Zeit, und ich forsche währenddessen gerne in alten Zeiten ...

niusic: Und jetzt haben Sie für den Ring das Bürgertum erforscht. Klingt trocken ...

Hilsdorf: Ne, das kommt doch erst im „Siegfried“ (lacht). Kennen Sie "Disteln für Hagen"? Da wird von einer Bestandsaufnahme der deutschen Seele gesprochen, meine Richtung ist eher eine Bestandsaufnahme des deutschen Anus. Ich hab vier Romane von Zola gelesen, da kann man dem Wagner Zunder geben. Im Moment machen drei Rheintöchter einen Zwerg fertig. Darum geht’s. Und um seltsame Figuren, die seltsame Aussagen machen. Ich glaube meistens die Aussagen dieser Figuren nicht, das verrate ich Ihnen gleich ... Ich muss ja auch nicht glauben, was Frau Merkel sagt, oder Trump. Manchmal ist es besser, nicht zu glauben.

Der „Ring“ an der Deutschen Oper am Rhein:

Die Deutsche Oper am Rhein präsentiert den neuen „Ring“ in der Inszenierung von Dietrich Hilsdorf und unter der musikalischen Leitung von Axel Kober in ihren beiden Häusern in Düsseldorf und Duisburg, wo er zwischen 2017 und 2019 in jeweils unterschiedlicher Sängerbesetzung zu erleben ist.

In Düsseldorf premiert „Das Rheingold“ am 23. Juni, „Die Walküre“ folgt am 28. Januar, „Siegfried“ am 7. April und die „Götterdämmerung“ am 27. Oktober des nächsten Jahres. Im Theater Duisburg startet der „Ring“ mit der Premiere „Rheingold“-Premiere am 4. November 2017. Bemerkenswert auch das Jahr 2019, wenn in Duisburg und Düsseldorf die Tetralogie noch einmal innerhalb weniger Tage aufgeführt wird.

© Titelbild: Pixabay/kaz
© Susanne Diesner


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